Nicholas Faircloughs Wohnsitz nannte sich Arnside House. Es lag am Ende einer Straße, die gesäumt war von eindrucksvollen viktorianischen Villen, die zweifellos einmal die Sommerresidenzen von Industriemagnaten aus Manchester, Liverpool und Lancaster gewesen waren. Die meisten Häuser waren umgewandelt worden in teure Eigentumswohnungen mit unverbaubarem Blick auf die Bucht, auf das Eisenbahnviadukt, das über die Bucht nach Grange-over-Sands führte, und auf Grange-over-Sands selbst, das heute hinter einem leichten herbstlichen Nebelschleier verborgen lag.
Im Gegensatz zu den prächtigen Villen war Arnside House ein relativ schlichtes Gebäude mit weiß getünchtem Rauputz. Die Fenster waren von Sandstein eingerahmt, und aus den vielen Giebeln ragten runde Schornsteine, die ebenfalls weiß getüncht waren. Nur die Regenrinnenkästen im Arts-and-Crafts-Stil hoben sich von all der Schlichtheit ab. Im Innern des Hauses erwartete sie eine seltsame Stilmischung aus allen möglichen Epochen von mittelalterlich bis modern.
Nicholas Fairclough öffnete die Tür. Er bat sie in eine eichengetäfelte Eingangshalle, deren Marmorboden mit einem Muster aus Rauten, Kreisen und Quadraten gestaltet war. Er nahm ihr den Mantel ab und führte sie einen Korridor hinunter und an einem großen Raum vorbei, der aussah wie ein mittelalterlicher Bankettsaal. Der Raum befand sich in einem ziemlich bedauernswerten Zustand, soweit Deborah das beurteilen konnte, und wie zur Erklärung sagte Nicholas Fairclough:»Wir restaurieren den alten Kasten Stück für Stück. Dieser Raum wird wohl als Letztes drankommen, denn wir müssen erst jemanden auftreiben, der die außergewöhnliche Tapete wieder hinbekommt. Pfauen und Petunien habe ich sie getauft. Das mit den Pfauen stimmt, aber bei den Petunien bin ich mir nicht so sicher. Kommen Sie, wir können uns im Wohnzimmer unterhalten.«
Das Wohnzimmer war sonnengelb gestrichen, mit einem weißen Stuckfries aus Weißdornbeeren, Vögeln, Rosen und Bucheckern. Jeden anderen Raum hätte dieser opulente Fries dominiert, hier jedoch war der Blickfang der mit türkisfarbenen Kacheln verkleidete offene Kamin. Aber obwohl ein Feuer brannte, bedeutete Nicholas Deborah zu einem der Erkerfenster weiterzugehen und in einem von zwei niedrigen Sesseln Platz zu nehmen. Von hier aus hatte man eine herrliche Aussicht auf die Bucht. Auf einem Tisch zwischen den Sesseln stand ein Kaffeeservice mit drei Tassen, daneben waren diverse Zeitschriften fächerartig angeordnet.
«Ich wollte mich kurz allein mit Ihnen unterhalten, ehe ich meine Frau hole«, sagte Nicholas.»Sie sollen wissen, dass ich bereit bin, ganz offen mit Ihnen zu reden, und dass ich mich freuen würde, wenn in dem Film über mein Projekt berichtet würde. Aber bei Allie werden wir noch ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten müssen. Da wollte ich Sie nur schon mal vorwarnen.«
«Verstehe. Können Sie mir ein bisschen über sie sagen …?«
«Sie ist ziemlich verschlossen«, sagte er.»Sie ist Argentinierin und geniert sich für ihr Englisch. Ich finde, ehrlich gesagt, dass sie es perfekt spricht, aber so ist sie nun mal. Außerdem …«Er rieb sich das Kinn.»Außerdem will sie mich beschützen.«
Deborah lächelte.»Dieser Film ist kein Enthüllungsbericht oder so was Ähnliches, Mr. Fairclough. Es sei denn, es stellt sich heraus, dass Sie ehemalige Drogensüchtige für Ihre Zwecke versklaven. Darf ich fragen, warum Sie es nötig haben, dass man Sie beschützt?«
Sie hatte die Frage als Scherz gemeint, aber ihr fiel auf, wie ernst er sie nahm. Er schien in Gedanken mehrere Möglichkeiten durchzugehen, und das fand sie ziemlich verräterisch. Schließlich sagte er:»Ich glaube, es verhält sich folgendermaßen. Sie fürchtet, dass ich irgendwie enttäuscht werde. Und sie macht sich Sorgen, wohin die Enttäuschung führen könnte. Natürlich spricht sie das nicht offen aus, aber schließlich kennt man eine Frau, wenn man eine Weile mit ihr zusammengelebt hat. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
«Wie lange sind Sie denn schon verheiratet?«
«Im März waren es zwei Jahre.«
«Dann stehen Sie sich sehr nahe.«
«Ja, allerdings. Ich werde sie holen, wenn’s recht ist. Sie sehen wirklich nicht besonders furchterregend aus.«
Er stand auf und ließ sie allein. Sie schaute sich um. Wer auch immer für die Gestaltung des Wohnzimmers verantwortlich war, besaß Geschmack. Das Mobiliar war im Stil an die Zeit angelehnt, aus der das Haus stammte, und fügte sich harmonisch in das Interieur ein. Neben dem auffälligen offenen Kamin besaß der Raum eine Reihe von schlanken Säulen mit Kapitellen in Form von überquellenden Obstkörben. Diese Säulen rahmten die Erkerfenster ein, bildeten den Abschluss der Sitzbänke in der Kaminecke und trugen einen Sims, der sich unterhalb des Frieses entlangzog. Die Restaurierung dieses Raums allein musste ein Vermögen verschlungen haben, dachte Deborah. Sie fragte sich, wo ein ehemaliger Junkie so viel Geld aufgetrieben hatte.
Ihr Blick wanderte zu dem niedrigen Tisch vor ihr und zu den Zeitschriften, die neben dem Kaffeeservice lagen. Sie hob sie nacheinander auf: Architektur, Innenarchitektur, Gartenbau. Dann hielt sie plötzlich inne. Eine Zeitschrift trug den Titel Conception. Empfängnis.
Deborah hatte diese Zeitschrift schon oft in den Wartezimmern von Gynäkologen liegen sehen, aber darin geblättert hatte sie noch nie. Vielleicht, dachte sie, gab es etwas, das sie und Nicholas Faircloughs Frau verband, und das könnte sich als hilfreich erweisen.
Sie schlug die Zeitschrift auf. Es gab Artikel zu Themen, wie sie in einem solchen Blatt zu erwarten waren: die richtige Ernährung während der Schwangerschaft, Vitaminpräparate für die Zeit vor der Empfängnis, Kindbettdepressionen und damit verbundene Probleme, Interviews mit Hebammen, die Kunst des Stillens. Dann fiel ihr auf, dass im hinteren Teil einige Seiten fehlten. Sie waren herausgerissen worden.
Sie hörte Schritte auf dem Korridor. Schnell legte sie die Zeitschrift auf den Tisch zurück und stand auf.»Alatea Vasquez del Torres Fairclough«, verkündete Nicholas. Dann musste er lachen.»Verzeih mir, es macht mir einfach Spaß, deinen vollen Namen auszusprechen. Allie, das ist Deborah St. James.«
Die Frau, dachte Deborah, sah ziemlich exotisch aus: dunkelhäutig mit fast schwarzen Augen und ausgeprägten Wangenknochen. Krauses, kaffeebraunes Haar, das um ihren Kopf wogte und in dem riesige goldene Ohrringe aufblitzten, wenn sie sich bewegte. Ein eklatanter Gegensatz zu Nicholas Fairclough, ehemaliger Junkie und schwarzes Schaf der Familie.
Alatea kam auf Deborah zu und streckte ihr die Hand entgegen. Sie hatte große Hände mit langen, schmalen Fingern.»Nicky hat mir versichert, dass Sie vollkommen harmlos sind«, sagte sie lächelnd. Sie sprach mit einem starken Akzent.»Er hat Ihnen ja schon erzählt, dass mir die Sache nicht ganz geheuer ist.«
«Was? Meine Harmlosigkeit oder das Projekt?«, fragte Deborah.
«Nehmen wir doch Platz, dann können wir uns in Ruhe unterhalten«, sagte Nicholas hastig, als fürchtete er, seine Frau würde Deborahs Scherz nicht verstehen.»Ich habe Kaffee gemacht, Allie.«
Alatea schenkte ihnen ein. Sie trug goldene Armreifen — passend zu den Ohrringen —, und sie klimperten an ihrem Handgelenk. Sie zögerte kurz, als ihr Blick auf die Zeitschriften fiel, und schaute Deborah an. Deborah schenkte ihr ein, wie sie hoffte, ermunterndes Lächeln.
Alatea sagte:»Ich habe mich über Ihr Filmprojekt gewundert, Ms. St. James.«
«Bitte nennen Sie mich Deborah.«
«Wie Sie wünschen. Das Projekt, das Nicholas hier oben betreibt, ist ziemlich klein. Mich würde interessieren, wie Sie davon erfahren haben.«
Auf die Frage war Deborah vorbereitet. Tommy hatte in Bezug auf die Faircloughs seine Hausaufgaben gemacht und etwas zutage gefördert, was ihr als logische Erklärung dienen konnte.»Ich bin nicht selbst darauf gestoßen«, sagte sie.»Ich fahre einfach dorthin, wo man mich hinschickt, und führe die Vorabrecherchen durch für die Filmemacher von Query Productions. Wie die ausgerechnet auf Sie gekommen sind, Nicholas, weiß ich nicht genau, aber ich glaube, es hatte etwas mit dem Artikel über das Haus Ihrer Eltern zu tun.«