Sie ging nach oben. In einem der ehemaligen winzigen Dienstbotenzimmer hatte Alatea ihr Planungsbüro eingerichtet, während am Haus gearbeitet wurde. In dieses Zimmer zog sie sich gern zurück, und hier stand auch ihr Laptop.
Es dauerte ewig, sich von hier aus ins Internet einzuloggen, aber irgendwann klappte es. Eine Zeitlang starrte sie auf den Bildschirm, dann begann sie zu tippen.
Es war ganz einfach gewesen, die Schule zu schwänzen. Schließlich würde ihn niemand, der seine fünf Sinne beisammenhatte, in dem Zustand nach Ulverston fahren wollen. Er war einfach im Bett liegen geblieben, hatte sich den Bauch gehalten und gestöhnt, Manette müsse ihm am Abend zuvor irgendwas vorgesetzt haben, das er nicht vertragen hatte. Außerdem hatte er behauptet, er hätte sich im Lauf der Nacht schon zweimal übergeben. Wie erwartet, war Gracie daraufhin zu Kaveh gerannt und hatte gerufen:»Timmy hat gekotzt! Timmy ist krank!«Ein bisschen schlechtes Gewissen hatte er schon gehabt, denn es war nicht zu überhören gewesen, dass er Gracie Angst eingejagt hatte. Die arme Kleine. Natürlich fürchtete sie, dass plötzlich noch einer aus der Familie abkratzen könnte.
Gracie sollte sich endlich mal beruhigen. Jeden Tag starben Leute. Das konnte man nicht verhindern, indem man sie rund um die Uhr betüddelte. Außerdem hatte Gracie, soweit er das beurteilen konnte, im Moment wirklich größere Probleme, als zu fürchten, dass noch jemand aus der Familie sterben könnte. Sie sollte sich lieber den Kopf darüber zerbrechen, was zum Teufel aus ihr werden sollte, jetzt, wo ihr Vater tot war und ihre Mutter keine Anstalten machte, sie und ihren Bruder zu sich zu nehmen.
Na ja, wenigstens waren sie nicht die Einzigen, die sich fragen mussten, was aus ihnen werden würde, dachte Tim. Denn es war nur eine Frage der Zeit, bis die Familie Kaveh vor die Tür setzen würde. Dann würde er sich eine neue Bleibe suchen müssen und einen neuen Schwanz, von dem er sich ficken lassen konnte. Dann kannst du wieder dahin verschwinden, wo mein Dad dich aufgegabelt hat, Kaveh, du Arsch.
Tim konnte den Moment kaum erwarten. Und wie sich herausstellte, war er nicht der Einzige.
Als Kaveh eben mit Gracie zum Auto gegangen war, hatte der alte George Cowley ihm aufgelauert, das hatte Tim von seinem Zimmerfenster aus beobachtet. Cowley sah aus wie ein Penner, aber das tat er immer. Es hatte also nichts weiter zu bedeuten, dass er seine Hosenträger vergessen hatte und ihm das Hemd halb aus der Hose hing. Wahrscheinlich hatte er Kaveh und Gracie gesehen, als er gerade dabei war, sich anzuziehen, und war aus seiner Hütte gerannt, um sich mit Kaveh anzulegen.
Tim konnte nicht hören, was die beiden sagten, aber er konnte sich auch so denken, um was es ging. Denn Cowley hatte sich mit einem Ruck die Hose hochgezogen und sich bedrohlich vor Kaveh aufgebaut. Und das konnte nur eins bedeuten: Cowley wollte wissen, wann Kaveh vorhatte, das Haus zu räumen. Er wollte wissen, wann die Bryan Beck Farm versteigert werden würde.
Gracie hatte ihren Rucksack auf dem Boden abgestellt und wartete darauf, dass Kaveh das Auto aufschloss und sie einsteigen konnte. Ihr Blick wanderte zwischen Kaveh und Cowley hin und her, und Tim sah ihr an, dass sie Angst hatte. Das versetzte ihm einen Stich. Eigentlich müsste er rausgehen und zwischen Cowley und Kaveh gehen oder zumindest Gracie da wegschaffen. Aber wenn er das tat, würde er Kavehs Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und der würde dann womöglich auf die Idee kommen, ihn doch noch zur Margaret Fox School zu bringen. Und das war das Letzte, was er gebrauchen konnte, denn er hatte heute etwas Wichtiges zu erledigen.
Tim wandte sich vom Fenster ab und warf sich auf sein Bett. Er wartete darauf, dass Kaveh losfuhr, denn dann würde er endlich allein sein. Als er den Motor aufheulen hörte — Kaveh gab beim Anfahren immer zu viel Gas —, nahm Tim sein Handy und tippte die Nummer ein.
Gestern war alles schiefgegangen. Er war total ausgeflippt bei Manette, und das war schlimm. Zum Glück hatte er sie nicht ernsthaft verletzt. Am liebsten hätte er sie erwürgt, damit sie endlich aufhörte, so bescheuert besorgt um ihn zu sein. Ihm war plötzlich schwarz vor Augen geworden, und er hatte die blöde Kuh auf dem Boden vor ihm nicht mal mehr gesehen. Er war auf die Knie gesunken und hatte nicht sie, sondern den Steg mit den Fäusten bearbeitet, und da hatte das Miststück ihn doch tatsächlich an sich gezogen und versucht, ihn zu trösten. Tim hatte keine Ahnung, wo die Kusine seines Vaters gelernt hatte, die andere Wange auch noch hinzuhalten. So wie die vergeben und vergessen konnte, war stark anzunehmen, dass sie mehr als eine Schraube locker hatte.
Jedenfalls hatte er es nicht mehr nach Windermere geschafft. Tim hatte das Theater mitgespielt und ein bisschen geheult. Irgendwann hatte er sich beruhigt. Dann hatten sie mindestens eine halbe Stunde auf dem Steg gelegen, während Manette ihn in den Armen gehalten und irgendwas gemurmelt hatte von wegen ganz ruhig, es wird alles gut, und wir beide fahren zum Zelten auf den Scout Scar, und wart’s nur ab, du wirst schon sehen, und wer weiß, vielleicht kommt dein Daddy ja zurück, als wollte ihn irgendjemand zurückhaben, und vielleicht ändert deine Mum sich ja, was genauso unwahrscheinlich war. Egal, dachte Tim. Wen interessierte das alles schon? Hauptsache, er musste nicht in Great Urswick übernachten, und das hatte er immerhin vermieden.
wo bist du, tippte er in sein Handy. heute ok.
Keine Antwort.
konnte nicht, lautete seine zweite SMS. keine mfg n W. Den Blödsinn mit Manette und dem Zelt und alles brauchte er nicht zu erwähnen, genauso wenig die Tatsache, dass er von Great Urswick Stunden gebraucht hätte, um nach Windermere zu trampen.
Immer noch keine Antwort. Tim wartete. Allmählich begann er sich zu fühlen, als hätte er tatsächlich etwas Verdorbenes gegessen. Er schluckte den Kloß der Verzweiflung, der ihm im Hals saß. Nein, sagte er sich. Er war nicht verzweifelt. Er war überhaupt nichts.
Er rollte sich vom Bett und warf das Handy auf den Nachttisch. Er klappte seinen Laptop auf und rief seine E-Mails ab. Keine neuen Nachrichten.
Zeit, ein bisschen Druck zu machen, dachte er. Er ließ es sich von keinem bieten, dass eine mit ihm getroffene Abmachung nicht eingehalten wurde. Er hatte seinen Teil erfüllt, und jetzt würde er dafür sorgen, dass der andere ebenfalls Wort hielt.
Lynley hatte eine kleine Taschenlampe aus dem Handschuhfach des Healey Elliott geholt und war gerade auf dem Weg zurück zum Bootshaus, um sich alles noch einmal genauer anzusehen, als sein Handy klingelte. Er erkannte Isabelles Nummer auf dem Display. Sie begrüßte ihn mit den Worten:»Tommy, ich brauche dich in London.«
Logischerweise nahm er an, dass es um einen neuen Fall ging, und fragte sie danach.
«Es geht nicht um eine dienstliche Angelegenheit«, antwortete sie.»Es gibt bestimmte Dinge, bei denen ich keinen deiner Kollegen für mich einspannen möchte.«
Er grinste.»Das freut mich. Es würde mir nicht gefallen, dich mit DI Stewart teilen zu müssen.«
«Ich würde es an deiner Stelle nicht darauf ankommen lassen. Wann kommst du wieder?«
Er schaute auf den See hinaus. Er hatte gerade das Pappelwäldchen durchquert und stand auf dem Weg zum Bootshaus, die Sonne schien ihm auf die Schultern. Es würde ein herrlicher Tag werden. Einen Augenblick lang stellte er sich vor, wie es wäre, den Tag mit Isabelle zu verbringen. Er sagte:»Das weiß ich noch nicht. Ich habe gerade erst angefangen.«
«Wie wär’s mit einem kurzen Treffen? Du fehlst mir, und das gefällt mir nicht. Denn wenn du mir fehlst, spukst du in meinem Kopf herum, und dann kann ich mich bei der Arbeit nicht richtig konzentrieren.«