«Und ein kurzes Treffen würde dich davon erlösen?«
«Ja. Ich gehe einfach gern mit dir ins Bett.«
«Zumindest bist du geradeheraus.«
«Und daran wird sich auch nichts ändern. Also, hast du Zeit? Ich könnte heute Nachmittag kommen …«Sie unterbrach sich, und er stellte sich vor, wie sie in ihrem Terminkalender nachschaute. Als sie fortfuhr, wusste er, dass er richtig vermutet hatte.»Gegen halb vier«, sagte sie.»Könntest du dich um die Zeit für ein Stündchen freimachen?«
«Ich bin nicht in der Nähe von London.«
«Wirklich nicht? Wo bist du denn?«
«Isabelle …«Er fragte sich, ob das ein Versuch war, ihn reinzulegen. Ihn mit der Aussicht auf Sex abzulenken und ihm dann unverhofft seinen Aufenthaltsort zu entlocken.»Du weißt, dass ich dir das nicht sagen kann.«
«Ich weiß, dass Hillier dich zum Schweigen verpflichtet hat. Ich hätte nicht gedacht, dass das auch für mich gilt. Hätte es auch …«Sie brach ab.»Vergiss es«, sagte sie, woraus er schloss, dass sie hatte fragen wollen: Hätte das auch für deine Frau gegolten? Aber das würde sie nicht aussprechen. Sie sprachen nie über Helen, denn über Helen zu sprechen beinhaltete das Risiko, ihre rein sexuelle Beziehung in eine andere Richtung zu lenken, und Isabelle hatte von Anfang an klargestellt, dass sie das nicht wollte.»Jedenfalls finde ich das lächerlich«, sagte sie.»Was glaubt Hillier denn, was ich mit der Information anfangen würde?«
«Das ist garantiert nichts Persönliches«, entgegnete er.»Ich meine, dass er nicht will, dass du eingeweiht wirst. Er will nicht, dass irgendjemand Bescheid weiß. Ehrlich gesagt, bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, ihn zu fragen, warum nicht.«
«Dass passt doch überhaupt nicht zu dir. Wolltest du vielleicht aus irgendeinem Grund aus London weg?«Dann fügte sie hastig hinzu:»Ach was, schon gut. Solche Gespräche bringen uns nur in Schwierigkeiten. Ich melde mich wieder, Tommy.«
Sie legte auf. Einen Augenblick lang betrachtete er sein Handy. Dann steckte er es ein und ging zum Bootshaus. Besser, er konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt, dachte er. Isabelle hatte recht. Manche Gespräche würden sie nur in Schwierigkeiten bringen.
Er stellte fest, dass das Bootshaus offenbar nie verriegelt wurde. Um die Tageszeit war es drinnen noch dunkler als beim letzten Mal, und er schaltete seine Taschenlampe ein. Es war kühl hier: das Wasser, das alte Gemäuer, die herbstliche Jahreszeit. Und es roch nach feuchtem Holz und Algen. Er ging den Anleger entlang zu der Stelle, wo Ian Cresswells Skullboot vertäut war.
Er kniete sich hin und beleuchtete die Lücke, wo sich die beiden Steine aus dem Gemäuer gelöst hatten. Viel zu sehen war nicht. Mörtel war per se ziemlich rau, und über die vielen Jahre waren Risse entstanden und kleine Partikel herausgebrochen. Wonach er suchte, war ein Hinweis darauf, dass ein Werkzeug zum Einsatz gekommen war, um die Steine zu lockern, eine Spitzhacke vielleicht, ein Schraubenzieher oder ein Brecheisen. Eigentlich kam jedes Werkzeug in Frage. Und jedes Werkzeug hätte Spuren hinterlassen.
Er konnte nichts entdecken. Zur näheren Untersuchung würde man eine bessere Beleuchtung beschaffen müssen, was allerdings schwierig werden würde, wenn er sich weiterhin als Besucher ausgeben sollte. Außerdem mussten die beiden herausgebrochenen Steine aus dem Wasser geholt werden — keine angenehme Vorstellung, denn das Wasser war zwar nicht tief, aber eiskalt.
Er schaltete die Taschenlampe aus und verließ das Bootshaus. Ließ den Blick über den See schweifen. Es war kein einziges Boot draußen, und in der vollkommen glatten Wasseroberfläche spiegelten sich die herbstbunten Bäume und der beinahe wolkenlose Himmel. Er schaute in Richtung des Herrenhauses. Von hier aus war es nicht zu sehen. Man musste den Pfad zurückgehen, und erst unter den Pappeln kam das Haus in Sicht. Allerdings gab es noch eine Stelle, von der aus das Bootshaus zu sehen war, fiel Lynley auf, nämlich vom obersten Stockwerk und vom Dach eines viereckigen Turms aus, der einen kleinen Hügel südlich des Pappelwäldchens überragte. Das war der Zierbau, in dem Mignon Fairclough wohnte. Sie war am Abend zuvor nicht zum Abendessen erschienen. Vielleicht würde sie sich über einen morgendlichen Besuch freuen.
Der Turm war den für die Gegend typischen Wehrtürmen nachempfunden. Solche Gebäude hatten wohlhabende Familien früher errichten lassen, um ihren Wohnsitzen einen historisierenden Anstrich zu verleihen, obwohl das bei Ireleth Hall kaum nötig gewesen war. Trotzdem war der Turm irgendwann errichtet worden, und jetzt stand er da, vier Stockwerke hoch, mit einem zinnenbewehrten Dach, das offenbar begehbar war. Und von dort, sagte sich Lynley, würde man rundherum alles einsehen können — Ireleth Hall, die Zufahrt, die gesamte Parkanlage, den See und das Bootshaus.
Als er an die Tür klopfte, rief eine Frau aufgeregt:»Was denn? Was denn nun schon wieder?«Vermutlich hatte er Mignon bei irgendeiner Tätigkeit unterbrochen, und er rief:»Miss Fairclough? Verzeihen Sie. Störe ich?«
Ihre Antwort klang überrascht:»Ach! Ich dachte, es wäre schon wieder meine Mutter. «Im nächsten Augenblick wurde die Tür geöffnet, und vor Lynley stand, gestützt auf einen Rollator, eine von Bernard Faircloughs Zwillingstöchtern. Die Frau war von ebenso kleiner Statur wie ihr Vater. Sie trug mehrere wallende Gewänder übereinander, die ihr das Flair einer Künstlerin verliehen und ihren Körper vollständig verhüllten. Außerdem war sie komplett geschminkt, als hätte sie vor auszugehen. Ihre Frisur wiederum hatte etwas Kindliches: Wie Alice im Wunderland trug sie eine blaue Schleife im Haar, das allerdings nicht blond, sondern hellbraun war.
«Ah, ich nehme an, Sie sind der Londoner«, sagte sie.»Sie schleichen schon den ganzen Morgen hier herum. Ich habe Sie eben schon wieder am Bootshaus gesehen.«
«Ach, Sie haben mich gesehen?«Lynley fragte sich, wie das möglich war. Vier Treppen hoch mit einem Rollator. Und er fragte sich, warum sie ihn beobachtete.»Ich wollte ein bisschen frische Luft schnappen«, sagte er.»Vom Bootshaus aus habe ich den Turm gesehen und beschlossen herzukommen, um mich vorzustellen. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, Sie gestern beim Abendessen kennenzulernen.«
«Das ist mir im Moment alles zu viel«, erwiderte sie.»Ich bin vor Kurzem operiert worden und immer noch nicht ganz auf dem Damm. «Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. Lynley rechnete schon damit, dass sie sagen würde:»Ich nehme Sie. «Oder dass sie ihn bitten würde, den Mund aufzumachen, damit sie sein Gebiss begutachten konnte, doch sie sagte nur:»Kommen Sie rein.«
«Störe ich auch nicht?«
«Ich war gerade im Internet, aber das kann warten. «Sie trat zur Seite, um ihn einzulassen.
Das Erdgeschoss bestand aus einem Wohnzimmer und einer Küche. In einer Ecke des Wohnzimmers stand Mignons Computer. Außerdem schien das Erdgeschoss als Lagerraum zu dienen, denn überall stapelten sich Kartons. Zuerst dachte Lynley, Mignon sei dabei umzuziehen, doch dann sah er, dass die Kartons, auf denen eingeschweißte Packzettel klebten, alle an Miss Fairclough adressiert waren.
Der Computer war eingeschaltet, und an der Bildschirmoberfläche erkannte Lynley, dass Mignon gerade dabei gewesen war, E-Mails abzurufen und zu beantworten. Als sie seinen Blick bemerkte, sagte sie:»Virtuelles Leben. Meiner Meinung nach dem wirklichen Leben bei Weitem vorzuziehen.«
«Eine moderne Version der Brieffreundschaft?«
«Gott, nein. Ich habe eine heiße Affäre mit einem Gentleman auf den Seychellen. Zumindest behauptet er, dass er da wohnt. Außerdem sagt er, dass er verheiratet ist und Lehrer ohne Aufstiegsmöglichkeiten. Der arme Mann ist dahin gezogen, weil er Lust auf Abenteuer hatte, und musste leider die Erfahrung machen, dass für ihn Abenteuer nur im Internet zu finden sind. «Ein unaufrichtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht.»Aber vielleicht ist das ja auch alles gelogen … Mich zum Beispiel hält er für eine Modedesignerin, die sich gerade auf die Präsentation ihrer nächsten Kollektion vorbereitet. Das letzte Mal war ich eine Missionsärztin, die in Ruanda gute Werke tat, und davor … mal überlegen … Ah ja. Davor war ich eine misshandelte Hausfrau auf der Suche nach jemandem, der mich verstand. Wie gesagt, virtuelles Leben. Alles ist möglich. Die Wahrheit ist uninteressant.«