«Kann dabei nicht der Schuss auch nach hinten losgehen?«
«Das ist ja gerade der Reiz an der Sache. Aber ich bin vorsichtig, und sobald einer ein Treffen in irgendeinem Hafen vorschlägt, breche ich den Kontakt ab. «Sie bewegte sich in Richtung Küche.»Ich sollte Ihnen einen Kaffee anbieten, aber ich fürchte, ich habe nur Instantkaffee. Möchten Sie eine Tasse? Oder lieber Tee? Ich habe nur Beutel, keinen losen Tee. Ich weiß, loser Tee ist besser, aber das ist mir alles zu viel Aufwand.«
«Einen Kaffee nehme ich gern. Ich möchte Ihnen jedoch keine Umstände bereiten.«
«Wirklich nicht? Wie wohlerzogen, das zu sagen. «Sie war in der Küche verschwunden, und er hörte sie mit Geschirr klappern. Lynley nutzte die Gelegenheit, sich ein bisschen umzusehen. Abgesehen davon, dass sich überall Kartons stapelten, stand auf allen verfügbaren Flächen schmutziges Geschirr herum. Die Teller und Tassen schienen schon seit geraumer Zeit dort zu stehen, denn als er eine Tasse anhob, hinterließ sie einen sauberen Kreis in der Staubschicht, die alles andere überzog.
Er trat näher an den Computer. Offenbar hatte Mignon nicht gelogen. Gott, ich weiß genau, was du meinst, hatte sie geschrieben. Manchmal lenkt einen das Leben von den wirklich wichtigen Dingen ab. Wir haben es früher jede Nacht gemacht. Jetzt kann ich froh sein, wenn es einmal im Monat passiert. Trotzdem solltest du mit ihr darüber reden. Wirklich. Na gut, ich sage das, obwohl ich mit James auch nicht darüber rede. Egal. Was ich mir wünsche, wird nicht passieren. Aber schön wär’s.
«Wir sind inzwischen so weit, dass wir uns von unserem erbärmlichen Eheleben erzählen«, sagte Mignon, die plötzlich hinter ihm stand.»Wirklich unglaublich: Es läuft immer gleich ab. Man sollte meinen, dass irgendjemand mal ein bisschen Fantasie entwickeln würde, wenn es um Verführung geht, doch weit gefehlt. Ich habe Wasser aufgesetzt. Gleich gibt’s Kaffee. Sie müssen sich Ihre Tasse selber holen.«
Lynley folgte ihr in die Küche. Sie war winzig, aber mit allem Nötigen ausgestattet. Mignon würde allerdings bald einmal abspülen müssen, dachte Lynley. Es waren kaum noch saubere Teller übrig, und die letzte saubere Henkeltasse hatte sie für seinen Kaffee verwendet. Sie selbst trank nichts.
«Würden Sie nicht eine echte Beziehung bevorzugen?«, fragte er.
Sie sah ihn an.»Wie die meiner Eltern?«
Er hob eine Braue.»Die beiden wirken einander sehr zugetan.«
«Aber ja. Das sind sie auch. Die reinsten Turteltauben. Haben sie Ihnen die Nummer vorgeführt?«
«Ich weiß nicht.«
«Na ja, wenn sie die Nummer gestern nicht abgezogen haben, dann kommt das bestimmt heute. Achten Sie auf verschwörerische Blicke. Darin sind sie besonders gut.«
«Alles Schau und nichts dahinter?«
«Das habe ich nicht gesagt. Sie sind einander zugetan. Und sie passen zueinander. Ich glaube, es hat damit zu tun, dass mein Vater fast nie hier ist. Das ist für sie beide perfekt. Na ja, zumindest für ihn. Und meine Mutter beklagt sich nicht, und warum sollte sie auch? Solange sie zum Angeln rausfahren, mit Freunden zu Mittag essen, mein Leben organisieren und jede Menge Geld für ihren Garten ausgeben kann, ist sie zufrieden. Und es ist übrigens ihr Geld und nicht das meines Vaters, aber das scheint ihm nichts auszumachen, solange er darüber verfügen kann. Das wäre nicht gerade meine Vorstellung von einer Ehe, doch da ich sowieso nicht vorhabe zu heiraten, sollte ich besser auch nicht über die meiner Eltern urteilen, nicht wahr?«
Das Wasser kochte, und der Wasserkocher schaltete sich ab. Mignon machte Lynley eine Tasse Kaffee, stellte sich dabei aber nicht sehr geschickt an. Sie löffelte Kaffeepulver in die Tasse und verstreute dabei die Hälfte auf der Anrichte, goss Wasser darauf und rührte so heftig um, dass der Kaffee überschwappte. Dann schaufelte sie mit demselben Löffel Zucker in die Tasse, ließ wieder Kaffee überschwappen, fügte Milch hinzu, und es schwappte noch einmal. Sie reichte Lynley die Tasse, ohne sie vorher abzuwischen, und sagte:»Sorry, ich bin keine besonders gute Hausfrau.«
«Ich auch nicht«, erwiderte er.»Danke.«
Sie schlurfte ins Wohnzimmer und sagte über ihre Schulter:»Was ist das übrigens für ein Auto?«
«Auto?«
«Das unglaubliche Gefährt, mit dem Sie rumfahren. Ich habe es gesehen, als Sie gestern angekommen sind. Ziemlich schicker Schlitten, aber der säuft bestimmt Sprit wie ein Kamel in der Oase.«
«Das ist ein Healey Elliott«, sagte er.
«Nie gehört. «Sie fand einen Sessel, der nicht unter der Last von Kartons und Zeitschriften ächzte, ließ sich hineinplumpsen und sagte:»Machen Sie sich’s bequem. Was im Weg ist, können Sie zur Seite räumen. «Und während er nach einem Sitzplatz suchte, fuhr sie fort:»Was wollten Sie denn nun am Bootshaus? Ich hab Sie auch gestern schon dort gesehen, zusammen mit meinem Vater. Was ist so interessant da unten?«
Er nahm sich vor, bei seinen Nachforschungen mehr Umsicht walten zu lassen. Anscheinend vertrieb sich Mignon, wenn sie nicht gerade im Internet war, die Zeit damit zu beobachten, was auf dem Anwesen vor sich ging. Er sagte:»Ich wollte ein bisschen mit dem Skullboot hinausrudern, aber dann hat meine Faulheit gesiegt.«
«Besser so. «Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung See.»Der Letzte, der das Boot benutzt hat, ist ertrunken. Ich dachte schon, Sie wären da unten rumgeschlichen, um sich den Tatort anzusehen. «Sie lachte grimmig.
«Tatort?«Er trank einen Schluck von seinem Kaffee. Er schmeckte scheußlich.
«Mein Vetter Ian. Man hat Ihnen doch sicher davon erzählt. Oder nicht?«Das meiste von dem, was sie ihm in unverändert unbekümmertem Tonfall erzählte, wusste er bereits. Ihre Leutseligkeit machte ihn nachdenklich. Nach seiner Erfahrung diente eine derart zur Schau getragene Aufrichtigkeit meist dazu, die wichtigsten Informationen zu verbergen.
Für Mignon stand fest, dass Ian Cresswell ermordet worden war. Ihrer Meinung nach kam es selten vor, dass jemand starb, bloß weil jemand anders sich das wünschte. Als Lynley daraufhin die Brauen hob, ließ sie sich ausführlicher dazu aus. Ihr Bruder Nicholas habe sein Leben lang im Schatten seines Vetters Ian gestanden. Seit Ian nach dem Tod seiner Mutter aus Kenia gekommen und im Haus eingezogen war, habe es nur noch geheißen Ian hier und Ian da, und warum kannst du nicht so sein wie Ian? Ian war ein Musterschüler in St. Bees gewesen, ein Spitzensportler, der Lieblingsneffe seines Onkels Bernard, der Stern am Himmel der Familie Fairclough, der Goldjunge, der nie etwas hatte falsch machen können.
«Als er seine Familie hat sitzen lassen und mit Kaveh zusammengezogen ist, dachte ich, das würde meinem Vater in Bezug auf unseren lieben Ian endlich die Augen öffnen. Nicky ist es bestimmt genauso gegangen, da bin ich mir sicher. Aber weit gefehlt. Und jetzt arbeitet Kaveh für meine Mutter. Wer soll das wohl arrangiert haben, wenn nicht Ian, hm? Nein, nichts, was der arme Nicky in seinem Leben getan hat, war gut genug, um ihm die Bewunderung seines Vaters einzutragen. Und nichts, was Ian tat, konnte die Liebe meines Vaters zu ihm mindern. Das bringt einen doch zum Nachdenken …«
«Worüber?«
«Über alles Mögliche«, antwortete sie mit einem unschuldigen und zugleich süffisanten Grinsen, das klarstellte, dass sie nicht bereit war, mehr zu dem Thema zu sagen.