«Nicholas hat ihn also ermordet?«, fragte Lynley.»Ich nehme an, er profitiert irgendwie von Ians Tod.«
«Also, was Ersteres angeht, würde ich mich jedenfalls nicht wundern. Aber ob er von Ians Tod profitiert … das weiß der Himmel. «Ihr Ton ließ auch vermuten, dass sie es Nicholas nicht übel nehmen würde, wenn er Ian Cresswell etwas angetan hätte, und das war neben dem, was sie sonst noch über den Mann gesagt hatte, ein Punkt, mit dem er sich noch genauer befassen würde, dachte Lynley. Ein weiterer Punkt war Ian Cresswells Testament.
Er sagte:»Ziemlich riskante Methode, Ian zu ermorden, meinen Sie nicht?«
«Warum?«
«Soweit ich weiß, fährt Ihre Mutter täglich mit dem Boot raus.«
Mignon richtete sich in ihrem Sessel auf.»Wollen Sie damit andeuten …?«
«Dass der Mordanschlag eigentlich Ihrer Mutter galt — wenn wir davon ausgehen, dass es sich tatsächlich um einen solchen handelt.«
«Niemand könnte auch nur das geringste Interesse am Tod meiner Mutter haben«, erklärte Mignon und zählte an ihren Fingern ab, welche Personen dafür in Frage kämen, allen voran natürlich wieder ihr Vater.
Lynley musste an Hamlet denken und an die Königin, die zu laut protestierte. Und er musste an reiche Leute denken und daran, was die mit ihrem Geld machten, und dass man mit Geld alles kaufen konnte, von unfreiwilligem Schweigen bis hin zu widerstrebender Kooperation. Aber all das warf natürlich die Frage auf, warum Bernard Fairclough nach London gefahren war und darum gebeten hatte, dass jemand ermittelte, unter welchen Umständen sein Neffe ums Leben gekommen war.
Da hielt sich einer für einen richtigen Schlaumeier, kam ihm in den Sinn. Die Frage war nur, auf wen das zutraf.
Manette Fairclough McGhie hatte lange geglaubt, dass es niemanden auf der Welt gab, der geschickter darin war, andere Leute zu manipulieren, als ihre eigene Schwester, aber jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher. Mignon hatte einen simplen Unfall in Launchy Gill ausgenutzt, um ihre Eltern dreißig Jahre lang an der Kandare zu halten: ein Sturz auf den glitschigen Steinen unter einem Wasserfall, eine Schädelfraktur — und schon ging die Welt unter. Doch im Vergleich zu Niamh Cresswell war Mignon ein Waisenkind. Mignon nutzte die Schuldgefühle und die Ängste anderer Leute aus, um zu bekommen, was sie wollte. Niamh hingegen benutzte ihre Kinder. Und das, dachte Manette grimmig, musste unbedingt aufhören.
Sie nahm sich einen Tag frei. Sie hatte sogar einen guten Grund, denn nachdem Tim gestern auf sie losgegangen war, tat ihr alles weh. Aber selbst wenn er sie nicht so brutal in die Nieren und den Rücken getreten hätte, hätte sie etwas unternommen. Wenn vierzehnjährige Jungs sich so aufführten, wie Tim es tat, dann gab es dafür einen Grund. Natürlich hatte sie sich schon gedacht, dass hinter Tims Aggressivität und seiner Versetzung auf die Margaret Fox School mehr stecken musste als die Verwirrung des Jungen angesichts der Entscheidungen seines Vaters. Doch sie hatte nicht gewusst, dass es seine nichtsnutzige Mutter war.
Niamh wohnte etwas außerhalb von Grange-over-Sands in einem schicken, modernen, an einem Hang gelegenen Neubaugebiet mit Blick auf die Morecambe Bay. Die Siedlung war offenbar von jemandem entworfen worden, der ein Faible für das Mediterrane hatte: Die Häuser waren alle gleich gestaltet, strahlend weiß mit blauen Türen und Fensterrahmen und identischen Vorgärten mit Kies und ein paar Sträuchern als gestalterischen Elementen. Die Häuser waren unterschiedlich groß, und wie nicht anders zu erwarten, besaß Niamh eins der größten mit der besten Aussicht auf die Bucht und die Vögel, die dort überwinterten. Niamh war dort eingezogen, nachdem Ian die Familie verlassen hatte. Ian hatte Manette nach der Scheidung erzählt, dass Niamh darauf bestanden hatte umzuziehen. Na ja, das war ja weiß Gott verständlich, hatte Manette damals gedacht. Das Haus, in dem sie mit Ian gewohnt hatte, war voller Erinnerungen, und außerdem musste sie sich nach dem Supergau, der sich in ihrer Familie ereignet hatte, um ihre beiden Kinder kümmern. Wahrscheinlich wollte sie einfach eine angenehme Umgebung schaffen, die die drastischen Veränderungen im Leben der Familie etwas erträglicher machte.
Diese Schlussfolgerungen hatte sie gezogen, bevor sie erfahren hatte, dass Tim und Gracie nicht bei ihrer Mutter, sondern bei ihrem Vater und dessen Liebhaber wohnten. Manettes erster Gedanke war gewesen: Was zum Teufel hat das zu bedeuten? Aber sie hatte die Frage nicht weiterverfolgt, als Ian ihr erklärt hatte, dass es sein Wunsch gewesen sei, die Kinder zu sich zu nehmen. Nach Ians Tod war sie selbstverständlich davon ausgegangen, dass Niamh die Kinder zu sich holen würde. Und dass sie das offenbar nicht getan hatte, brachte Manette erneut auf die Frage: Was zum Teufel hat das zu bedeuten? Und diesmal würde sie dafür sorgen, dass sie eine Antwort bekam.
Niamhs Kombi stand vor dem Haus, und sie machte sofort auf, als Manette an die Haustür klopfte. Ihr erwartungsvoller Gesichtsausdruck verschwand, als sie Manette erblickte. Niamh hatte genug Parfüm aufgelegt, um den stärksten Hengst ins K.o. zu befördern, und sie trug ein fast bis zum Bauchnabel ausgeschnittenes pinkfarbenes Cocktailkleid. Aber allein ihr Gesicht hätte Manette verraten, dass sie jemand ganz anderen erwartet hatte.
«Manette«, sagte Niamh zur Begrüßung, machte jedoch keine Anstalten, von der Tür wegzutreten.
Egal, dachte Manette und trat einen Schritt nach vorne, so dass Niamh keine andere Wahl blieb, als entweder eine Kollision zu riskieren oder aus dem Weg zu gehen. Sie entschied sich für Letzteres, schloss allerdings nicht die Tür, als sie Manette ins Haus folgte.
Manette ging ins Wohnzimmer, von dessen Panoramafenstern aus man auf die Bucht sah. Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Arnside Knott auf der anderen Seite der Bucht und verschwendete einen ebenso flüchtigen Gedanken daran, dass man mit einem starken Teleskop nicht nur die vom Wind gebeutelten Koniferen oben auf dem Hügel erkennen, sondern auch beobachten konnte, was sich weiter unten im Wohnzimmer ihres Bruders Nicholas abspielte.
Sie drehte sich um. Niamh musterte sie mit zusammengekniffenen Augen, aber aus irgendeinem Grund schoss ihr Blick mehrmals in Richtung Küche. Als würde sich dort jemand verstecken, dachte Manette, was allerdings in Anbetracht von Niamhs erwartungsvollem Gesichtsausdruck beim Öffnen der Tür irgendwie keinen Sinn ergab. Deswegen sagte Manette:»Ich könnte einen Kaffee gebrauchen. Darf ich …«Sie ging auf die Küchentür zu.
«Was willst du, Manette?«, fragte Niamh.»Du hättest wenigstens anrufen und mir Bescheid sagen können …«
Aber Manette war bereits in der Küche und stellte den Wasserkessel auf den Herd, als wäre sie hier zu Hause. Auf der Anrichte entdeckte sie den Grund für Niamhs nervöse Blicke. Dort stand ein knallroter Blecheimer, gefüllt mit allen möglichen Gegenständen. Ein schwarzer, wie eine Flagge geformter Aufkleber verkündete in weißer Schrift: Liebeseimer. Ein offener Karton, der ebenfalls auf der Anrichte stand, verriet, dass der Eimer eben erst mit der Post geliefert worden war. Man brauchte keinen Doktortitel in Sexualkunde, um zu erraten, dass der Inhalt des Eimers aus einer Auswahl an Spielzeug bestand, mit dessen Hilfe ein Paar ein bisschen Würze in sein Sexualleben zu bringen hoffte. Sehr interessant, dachte Manette.
Niamh schob sich an ihr vorbei und verstaute den Liebeseimer wieder in dem Karton.»Also gut«, sagte sie.»Was willst du? Und ich werde den Kaffee machen, wenn du nichts dagegen hast. «Sie nahm einen Kaffeekocher aus dem Schrank und knallte ihn auf die Anrichte. Dieselbe Behandlung wurde einer kleinen Packung Kaffee und einer Henkeltasse mit der Aufschrift Ich war in Blackpool zuteil.
Manette hielt es für das Beste, gleich zur Sache zu kommen.»Ich bin hier, um mit dir über deine Kinder zu reden«, sagte sie.»Warum wohnen sie immer noch nicht bei dir, Niamh?«