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«Sie ist sehr attraktiv«, sagte Deborah.»Ich könnte mir vorstellen, dass das für jemanden, der ständig im Rampenlicht steht, ein Problem ist, vor allem in einer Kleinstadt. Aller Augen sind pausenlos auf sie gerichtet, wissen Sie. Aus welchem Ort in Argentinien stammt Ihre Frau denn?«

«Aus Santa María de irgendwas. Das vergesse ich immer. Ein Städtename, der aus zehn Wörtern besteht. Am Fuß von irgendeinem Gebirge. Tut mir leid. Ich kann mir diese spanischen Namen einfach nicht merken. Sprachen sind mir ein Buch mit sieben Siegeln. Ich kann ja kaum Englisch! Auf jeden Fall mag sie den Ort nicht. Sie sagt, es war wie hinterm Mond zu leben. Wahrscheinlich ein kleines Kaff. Mit fünfzehn ist sie von zu Hause weggelaufen. Später hat sie sich mit ihren Eltern versöhnt, aber sie ist nie dorthin zurückgekehrt.«

«Sie wird ihren Eltern doch fehlen.«

«Dazu kann ich Ihnen nichts sagen«, erwiderte Nicholas.»Aber man würde es doch vermuten, oder?«

«Sie haben ihre Eltern also noch nicht kennengelernt? Sind sie denn nicht zur Hochzeit gekommen?«

«Tja, wir haben in aller Stille geheiratet. Nur Allie und ich im Rathaus von Salt Lake City, einer, der die Trauung vollzogen hat, und zwei Frauen, die wir auf der Straße angesprochen und gefragt hatten, ob sie sich als unsere Trauzeugen zur Verfügung stellen könnten. Danach hat Allie ihren Eltern geschrieben, um ihnen mitzuteilen, dass sie geheiratet hatte, doch sie haben nicht geantwortet. Ich glaube, die sind ziemlich sauer auf sie. Aber sie werden sich bestimmt irgendwann wieder beruhigen, wie alle Eltern. Vor allem …«, er grinste,»… wenn erst mal ein Enkelkind unterwegs ist.«

Deswegen also hatte Conception auf dem Tisch gelegen, eine Zeitschrift voller Artikel über Themen rund um das Thema Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt.»Sie erwarten ein Kind? Herzlichen …«

«Nein, nein, noch nicht. Aber wir rechnen jeden Moment damit. «Er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad.»Ich bin ein Glückspilz«, sagte er.»Ein echter Glückspilz. «Dann zeigte er auf ein Waldgebiet östlich der Straße, wo Laubbäume in bunten Herbstfarben zwischen grünen Koniferen leuchteten.»Der Middlebarrow Wald«, sagte er.»Von hier aus kann man den Wehrturm sehen. «Er hielt in einer Haltebucht, damit sie in Ruhe schauen konnte.

Der Turm stand auf einer Erhebung, die an die prähistorischen Grabhügel erinnerte, die es überall in England gab. Jenseits des Hügels begann der Wald. Der Turm stand auf einer freien Fläche, so dass man von seinen Fenstern aus jeden Angreifer sehen konnte, der sich aus dem Wald näherte, was in den Jahrhunderten, als die Grenze zwischen Schottland und England sich ständig änderte, an der Tagesordnung gewesen war. Die Angreifer hatten alle dasselbe Ziel. Es handelte sich um Marodeure, die die Rechtlosigkeit der damaligen Zeit ausnutzten und das Grenzgebiet unsicher machten. Sie überfielen die Dörfer, stahlen das Vieh, plünderten die Häuser aus und flohen mit ihrer Beute über die Grenze. Dabei gab es natürlich unweigerlich immer wieder Tote auf beiden Seiten.

Die Wehrtürme waren zum Schutz gegen diese Marodeure errichtet worden. Einige davon waren unzerstörbar, mit meterdicken Mauern und Schießscharten anstatt Fenstern und getrennten Stockwerken für das Vieh, die Bewohner und die Verteidigungsstellungen. Aber als man die Grenze schließlich festgelegt, Gesetze erlassen und Sheriffs eingesetzt hatte, wurden die Türme nicht mehr gebraucht. Einige wurden abgetragen und das Baumaterial für andere Zwecke benutzt, andere wurden in größere Bauten integriert wie Pfarrhäuser oder Schulen.

Der Wehrturm von Middlebarrow gehörte zu der ersten Kategorie. Er ragte hoch auf, die meisten seiner Fenster waren intakt. In einiger Entfernung standen ein paar alte Bauernhäuser, die Zeugnis davon ablegten, welchem Verwendungszweck einige der Steine aus seinen Mauern zugeführt worden waren. Auf der Wiese zwischen dem Turm und den Bauernhäusern war ein Zeltlager errichtet worden. Es war eine Ansammlung von kleinen Zelten, mehreren behelfsmäßigen Schuppen und einem größeren Zelt für das Zwölf-Schritte-Programm, wie Nicholas Fairclough erklärte. Außerdem diente das große Zelt als Speisesaal.

Nicholas fuhr weiter und bog in eine Straße ein, die zu dem Turm führte. Der Turm, sagte er, stehe auf dem Land eines Bauern aus Middlebarrow. Der Bauer hatte seine Zustimmung zu dem Projekt gegeben, nachdem er begriffen hatte, dass der restaurierte Turm als Touristenattraktion dienen würde und man sogar Ferienwohnungen darin einrichten konnte.

«Er hat sich sogar entschlossen, einen Campingplatz zu bauen«, sagte Nicholas.»Das bringt ihm während der Urlaubssaison ein bisschen Geld ein. Es war übrigens Allies Idee, den Bauern mit ins Boot zu holen. Anfangs hat sie noch bei dem Projekt mitgemacht.«

«Und jetzt nicht mehr?«

«Sie hält sich gern im Hintergrund. Außerdem … na ja, als die ersten Junkies kamen, ist sie lieber zu Hause geblieben. «Sie waren auf der Baustelle angekommen, und Nicholas hielt an.»Aber keine Sorge. Diese Burschen sind viel zu kaputt und viel zu sehr damit beschäftigt, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, um eine Gefahr für irgendjemanden darzustellen.«

Aber sie waren nicht zu kaputt, um zu arbeiten, stellte Deborah fest. Einer von ihnen war zum Gruppenleiter bestimmt worden, ein Mann, den Nicholas ihr als Dave K vorstellte —»Es ist üblich, keine Nachnamen zu verwenden«, erklärte er ihr —, und sie begriff sofort, dass der Tagesablauf aus Arbeiten, Essen, Zwölf-Schritte-Programm und Schlafen bestand. Dave K hatte einige zusammengerollte Pläne bei sich, die er auf der Motorhaube von Nicholas Faircloughs Auto ausrollte. Mit einem Nicken nahm er Deborah zur Kenntnis, dann zündete er sich eine Zigarette an, die er, während er mit Nicholas über das Projekt sprach, als Zeigestock benutzte.

Deborah schlenderte zur Baustelle hinüber. Der Turm war enorm, ein Trumm von einem Gebäude mit Zinnendach, das an eine normannische Burg erinnerte. Auf den ersten Blick hatte sie gar nicht den Eindruck, dass hier größere Restaurierungsarbeiten vonnöten waren, doch als sie um den Turm herumging, sah sie, was im Lauf der Jahrhunderte aus dem Gemäuer geworden war. Jeder hatte sich von den Steinen bedienen können.

Deborah betrachtete das alles mit dem Blick der Fotografin, die Baustelle und auch die Männer, die dort arbeiteten, die meisten im Rentneralter. Sie hatte keine ihrer großen Kameras dabei, nur eine kleine Digitalkamera, sozusagen als Requisit für ihre Rolle als Filmemacherin. Sie nahm die kleine Kamera aus der Tasche und begann zu fotografieren.

Nicholas Fairclough stieß zu ihr.»Ehrlich gesagt sehen Ihre Arbeiter nicht aus, als wären sie kräftig genug, hier viel auszurichten, Mr. Fairclough. Warum sind hier keine jungen Männer?«, fragte sie.

«Weil diese Männer am dringendsten Hilfe brauchen. Hier und jetzt. Wenn niemand sich ihrer annimmt, werden sie in den nächsten Jahren auf der Straße sterben. Ich finde, dass niemand es verdient hat, so zu sterben. Im ganzen Land — auf der ganzen Welt — gibt es Programme für junge Leute, und glauben Sie mir, da kenne ich mich aus, denn ich habe eine Menge davon durchlaufen. Aber für solche Männer wie die hier? Schlafplätze, Sandwiches, warme Suppe, Bibeln, Decken, alles Mögliche gibt es für sie. Aber keine Hoffnung. Die sind noch nicht so weit weggetreten, dass sie nicht in der Lage wären, Mitleid zehn Meter gegen den Wind zu riechen. Wenn man sie so behandelt, besorgen sie sich von dem Geld, das man ihnen gibt, den nächsten Rausch und wünschen einen zum Teufel … Entschuldigen Sie mich einen Moment, ja? Sehen Sie sich ruhig um. Ich muss kurz mit einem der Männer reden.«

Deborah schaute ihm nach, als er behende über den Bauschutt kletterte.»Hey Joe!«, rief er.»Hat der Steinmetz sich schon gemeldet?«

Deborah ging auf das große Zelt zu, über dessen Eingang ein Schild mit der Aufschrift EAT AND MEET hing. Ein bärtiger Mann mit Strickmütze und dicker Jacke — viel zu warm für das Wetter, aber er schien überhaupt kein Körperfett zu haben, das ihn wärmte — war drinnen gerade dabei, das Mittagessen vorzubereiten. Auf Spirituskochern standen große Kochtöpfe, und es duftete nach Fleisch und Kartoffeln. Er sah Deborah, und sein Blick fiel sofort auf die Kamera, die sie in der Hand hielt.