«Isabelle …«Mehr brachte Lynley nicht über die Lippen. Er beendete das Gespräch, steckte sein Handy ein und ging auf sein Zimmer.
5. November
Barbara Havers hatte den Morgen ihres freien Tags dazu genutzt, ihre Mutter zu besuchen, die in einem privaten Pflegeheim in Greenford lebte. Sie war schon seit sieben Wochen nicht mehr dort gewesen, und das schlechte Gewissen drückte sie von Tag zu Tag mehr. Längst hatte sie sich eingestanden, dass sie froh war, wenn die Arbeit sich stapelte, weil sie dann nicht nach Greenford fahren und sich ansehen musste, wie ihre Mutter immer tiefer in der geistigen Umnachtung versank. Doch irgendwann hatten die Schuldgefühle die Oberhand gewonnen, und sie konnte den Besuch in dem Haus mit dem Kieselputz, dem gepflegten Vorgarten und den blütenweißen Gardinen hinter den blitzsauberen Fensterscheiben nicht länger vor sich herschieben. Sie fuhr vom Bahnhof in der Tottenham Court Road mit der Central Line — nicht, weil das schneller ging, sondern weil es länger dauerte.
Sie war eine zu ehrliche Haut, um sich vorzumachen, dass sie mit der U-Bahn fuhr, um Zeit zum Nachdenken zu haben. Am liebsten wollte sie über gar nichts nachdenken, und ihre Mutter war nicht das einzige Thema, das ihr Bauchschmerzen machte. Ein anderes war Thomas Lynley: Wo steckte er, womit befasste er sich, und warum hatte man sie über nichts informiert? Ein weiteres war Isabelle Ardery: Würde sie den Posten des Detective Superintendent tatsächlich bekommen? Und was würde das für Barbaras Zukunft bei Scotland Yard bedeuten oder für ihr Verhältnis zu ihrem Kollegen Thomas Lynley? Dann war da noch das Thema Angelina Upman: Würde sie sich mit der Geliebten ihres Nachbarn und Freundes Taymullah Azhar, dessen Tochter so viel Freude in ihr Leben brachte, anfreunden können?
Nein, die Fahrt mit der U-Bahn war reine Vermeidungsstrategie, so einfach war das. Die U-Bahn bot reichlich und ständig wechselnde Ablenkung, und Ablenkung war genau das, was Barbara brauchte, und sei es nur, um Gesprächsstoff zu haben, wenn sie ihrer Mutter endlich gegenübersaß.
Nicht dass sie mit ihrer Mutter überhaupt noch Gespräche führen konnte. Jedenfalls keine, wie sie zwischen Mutter und Tochter normal waren. Barbara redete, geriet ins Stottern, wartete und sehnte irgendwann nur noch den Moment herbei, an dem sie wieder gehen konnte.
Ihre Mutter hatte sich in Laurence Olivier verliebt, den jungen Laurence Olivier. Sie war völlig hingerissen von Heathcliff und Max de Winter. Sie war sich nicht ganz sicher, wer der Mann war, der im Fernsehen Merle Oberon quälte oder die arme Joan Fontaine sprachlos machte, sie wusste nur, dass sie und dieser gutaussehende Mann füreinander bestimmt waren. Dass der Mann längst tot war, spielte für sie keine Rolle.
Und sie regte sie sich furchtbar auf, wenn nicht Wuthering Heights oder Rebecca über die Mattscheibe flimmerte. Und so liefen sie in einer Endlosschleife auf dem Fernseher in ihrem Zimmer — dafür hatte Mrs. Florence Magentry gesorgt, um nicht nur ihre eigenen, sondern auch die Nerven der anderen Heimbewohner zu schonen. Man konnte einfach nicht unbegrenzt häufig mitansehen, wie der hinterhältige Larry das bisschen Glück des armen David Niven zerstörte.
Barbara hatte zwei Stunden mit ihrer Mutter verbracht. Es waren qualvolle zwei Stunden gewesen, und danach war sie schrecklich bedrückt nach Hause gefahren. Deswegen hatte sie, als sie Angelina Upman und ihre Tochter Hadiyyah vor der Haustür getroffen hatte, deren Einladung gerne angenommen, mit in die Wohnung zu kommen und sich anzusehen,»was Mummy gekauft hat«.
Barbara hatte pflichtschuldigst die beiden ultramodernen Lithografien bewundert, die Angelina» fast umsonst, stimmt’s, Mummy «von einem Händler auf dem Stables Market erstanden hatte. Die Bilder entsprachen nicht Barbaras Geschmack, aber sie musste zugeben, dass sie sich in Azhars Wohnzimmer gut machten.
«Möchten Sie eine Tasse Tee? Ich sterbe vor Durst, und Sie sehen ein bisschen mitgenommen aus. Anstrengender Tag?«, fragte Angelina.
«Ich war in Greenford. «Mehr sagte Barbara nicht, doch Hadiyyah fügte hinzu:»Da wohnt Barbaras Mum. Sie ist krank, nicht wahr, Barbara?«
Da Barbara keine Lust hatte, über ihre Mutter zu reden, suchte sie krampfhaft nach einem anderen Thema: Haare.
Nachdem Isabelle Ardery sie jetzt schon mehrmals darauf angesprochen hatte, musste Barbara zwingend irgendetwas in puncto Frisur unternehmen. Angela habe doch neulich einmal einen Frisörladen erwähnt, sagte sie, ob sie ihr den empfehlen …
«Salon!«, fiel Hadiyyah ihr ins Wort.»Das heißt Frisörsalon, Barbara.«
«Hadiyyah!«, sagte ihre Mutter streng.»Das ist sehr unhöflich. «Zu Barbara sagte sie:»Ja natürlich kann ich Ihnen einen Frisörsalon empfehlen, und zwar den, wo ich selbst hingehe.«
«Meinen Sie, die könnten …?«Barbara war sich nicht einmal sicher, was sie machen lassen sollte. Einen neuen Haarschnitt? Eine andere Farbe? Eine Dauerwelle? Sie schnitt sich schon seit Jahren selbst die Haare, und was dabei herauskam, sah zwar tatsächlich genauso aus, wie man es erwarten würde — nämlich nicht wie eine Frisur, sondern wie mit der Sense barbiert. Es hatte seinen Zweck erfüllt und ihr die Haare aus dem Gesicht gehalten. Aber das reichte nun nicht mehr, zumindest nicht in den Augen von Barbaras Chefin.
«Die machen Ihnen, was Sie wünschen. Die sind sehr gut. Ich kann Ihnen die Telefonnummer geben. Und den Namen meines Frisörs. Er heißt Dusty, und er ist ein fürchterlich eingebildeter Arsch und von sich selbst überzeugt, dass es stinkt. Doch was Haare betrifft, ist er der reinste Künstler. Wenn Sie wollen, kann ich gleich einen Termin für Sie ausmachen und Sie begleiten … Wenn Ihnen das nicht zu aufdringlich erscheint.«
Barbara wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte, mit Hilfe von Azhars Lebensgefährtin an der Verbesserung ihrer äußeren Erscheinung zu arbeiten. Bisher hatte Hadiyyah diese Rolle innegehabt.
Angelina schien ihre Unentschlossenheit zu spüren, denn sie sagte:»Also, ich gebe Ihnen schon mal die Nummer, und dann können Sie sich’s ja überlegen. Es würde mir Spaß machen, Sie zu begleiten.«
«Wo ist dieser Salon denn überhaupt?«
«In Knightsbridge.«
«Knightsbridge?«Gott, das würde ja ein teurer Spaß werden.
«Das liegt ja nicht auf dem Mond, Barbara«, sagte Hadiyyah.
Ihre Mutter hob den Zeigefinger.»Hadiyyah Khalidah …«
«Schon in Ordnung«, sagte Barbara.»Sie kennt mich einfach zu gut. Wenn Sie mir die Nummer geben, ruf ich gleich da an. Willst du auch mitkommen, Kleine?«, fragte sie Hadiyyah.
«Au ja!«, rief Hadiyyah.»Mummy, ich darf doch mit, oder?«
«Sie auch«, sagte Barbara zu Angelina.»Ich glaub, ich brauch bei dieser Unternehmung alle Unterstützung, die ich kriegen kann.«
Angelina lächelte. Ein hübsches Lächeln, dachte Barbara. Azhar hatte ihr nie erzählt, wie er Angelina kennengelernt hatte, aber vermutlich war es das Lächeln gewesen, das ihm als Erstes an ihr aufgefallen war. Da er ein Mann war, hatte er als Nächstes ihren Körper erblickt, der schlank und feminin und gepflegt war und in schönen Kleidern steckte. Eine Frau, mit der Barbara nie im Leben würde konkurrieren können.
Sie nahm ihr Handy aus der Tasche, um bei dem Frisör anzurufen, kam jedoch nicht dazu, weil es im selben Augenblick klingelte. Es war Lynley. Die Freude, die sie beim Anblick seiner Handynummer überkam, war ihr unangenehm.
«Der Anruf beim Frisör muss leider noch kurz warten«, sagte sie zu Angelina.»Ich muss erst noch hier drangehen.«
«Was machen Sie gerade?«, fragte Lynley.»Wo sind Sie? Können Sie reden?«
«Meine Stimmbänder funktionieren noch, falls Sie das meinen«, erwiderte Barbara.»Falls Sie aber wissen wollen, ob es ungefährlich ist … Gott, das hat er die ganze Zeit zu Dustin Hoffman gesagt. Ich glaub, ich hab den Verstand verloren …«