«Barbara, wovon reden Sie da?«
«Laurence Olivier. Marathon Man. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich bin zu Hause. Mehr oder weniger. Also, ich sitze auf Azhars Terrasse. Ihr Anruf hat mich in letzter Minute davor bewahrt, einen Termin beim Frisör zu machen, um Detective Superintendent Ardery zu gefallen. Ich hatte an eine Lockenmähne im Stil der frühen achtziger Jahre gedacht. Oder vielleicht so eine Vorkriegsfrisur, bei der die Haare an den Seiten zu Würsten aufgerollt werden. Ich hab mich schon immer gefragt, wie die das hingekriegt haben — vielleicht mit Klopapierrollen?«
«Muss ich mich darauf einstellen, dass sich demnächst jedes Telefongespräch mit Ihnen um das Thema Mode dreht?«, fragte Lynley.»Bisher dachte ich immer, Ihr Charme bestünde gerade in Ihrer Gleichgültigkeit gegenüber jeder Art von Modetrend.«
«Die Zeiten sind vorbei, Sir. Was kann ich für Sie tun? Ich geh mal davon aus, dass Sie mich nicht anrufen, um sich zu vergewissern, dass ich mir immer schön die Beine rasiere.«
«Ich möchte, dass Sie für mich etwas überprüfen, aber niemand darf etwas davon mitbekommen. Möglicherweise wird auch ein bisschen Lauferei auf Sie zukommen. Sind Sie bereit, das für mich zu tun? Das heißt, ist es Ihnen möglich?«
«Ich nehm an, das hat mit dem zu tun, was Sie grade treiben. Im Yard zerreißen sich schon alle das Maul darüber, wissen Sie.«
«Worüber?«
«Wo Sie stecken, warum Sie weg sind, wer Sie geschickt hat und so weiter und so fort. Laut vorherrschender Meinung sind Sie grade dabei, irgendeinen Riesenschlamassel zu untersuchen. Korruption innerhalb der Polizei — Sie mit Tarnkappe auf der Jagd nach Leuten, die bündelweise Schmiergeld kassieren oder einem armen Verdächtigen Elektroden an die Eier klemmen. Sie kennen das ja.«
«Und Sie?«
«Was glauben Sie denn? Hillier hat Sie auf einen Fall angesetzt, den er selber nicht mit einem fünf Meter langen Stock anrühren würde. Wenn die Sache in die Hose geht, bleibt die Scheiße an Ihnen hängen, während er immer noch nach Rosen duftet … Stimmt das in etwa?«
«Was Hillier angeht, ja. Es geht aber nur um einen Gefallen, den ich ihm tue.«
«Und mehr dürfen Sie nicht verraten.«
«Vorerst jedenfalls nicht. Sind Sie bereit?«
«Wozu? Ihnen unter die Arme zu greifen?«
«Sie müssen unter dem Radar fliegen. Niemand darf davon erfahren. Vor allem nicht …«
«Superintendent Ardery.«
«Sie könnten Ärger mit ihr bekommen. Langfristig wohl nicht, aber kurzfristig.«
«Wozu bin ich denn auf der Welt?«, seufzte Barbara.»Schießen Sie los.«
Kaum hatte Lynley den Namen Fairclough ausgesprochen, wusste Barbara Bescheid. Das lag nicht etwa daran, dass sie das Schicksal sämtlicher Titelinhaber Großbritanniens verfolgte, weit gefehlt. Nein, es war dem Umstand geschuldet, dass sie eine leidenschaftliche Leserin der Source war. Ja, sie war regelrecht süchtig nach zehn Zentimeter großen Schlagzeilen und herrlich kompromittierenden Fotos, und das schon seit Jahren. Wenn sie an einer Werbetafel vorbeikam, die eine Skandalgeschichte ankündigte, marschierten ihre Füße von ganz allein zum nächsten Kiosk. Sie kaufte sich das Blatt und schwelgte in den schlüpfrigen Details, meist bei einer Tasse Tee und einem getoasteten Teilchen. Deshalb war ihr der Name Fairclough vertraut, und zwar nicht nur wegen des Barons von Ireleth und dessen Firma — über die die Presse jahrelang immer wieder ihren Spott gegossen hatte —, sondern auch wegen des Lotterlebens von Nicholas Fairclough, dem Sprössling des Barons.
Und sie wusste sofort, wo Lynley sich aufhielt: in Cumbria, wo die Familie Fairclough wohnte und die Firma ihren Sitz hatte. Was sie nicht wusste, war, was Hillier mit den Faircloughs zu tun hatte und um welchen Gefallen er Lynley gebeten hatte. Anders ausgedrückt, sie war sich nicht sicher, auf wessen Seite sie stehen würden. Da aber ein Adelstitel im Spiel war, würde es Hillier ähnlich sehen, sich bei dessen Träger einzuschmeicheln. Hillier hatte ein Faible für Adelstitel, vor allem für solche, die höher angesiedelt waren als seiner, und das waren so ziemlich alle.
Also ging es wahrscheinlich um Lord Fairclough und nicht um seinen nichtsnutzigen Sohn, der ebenso wie viele andere reiche junge Leute, die ihr Leben zerstörten, schon oft für Schlagzeilen gesorgt hatte. Doch die Liste der Dinge, über die Lynley Informationen wünschte — darunter ein Testament, eine Versicherungspolice, die Source, Bernard Fairclough und die neueste Ausgabe der Zeitschrift Conception —, sagte ihr, dass er ein breites Netz ausgeworfen hatte. Mit auf der Liste standen auch ein Mann namens Ian Cresswell, Faircloughs Neffe, sowie — falls ihre Zeit es erlaubte — eine Frau namens Alatea Vasquez del Torres, eine Argentinierin aus Santa María de soundso. Aber nur, wenn ihre Zeit dafür ausreichte, betonte Lynley, denn im Moment gehe es in erster Linie um Fairclough. Fairclough senior, nicht Fairclough junior.
Freddies neueste Flamme, eine Frau, die er beim Internet-Dating kennengelernt hatte, war über Nacht geblieben. Eigentlich hielt Manette sich für eine ziemlich moderne Frau, aber das ging doch ein bisschen zu weit. Sicher, ihr Exmann war kein Schuljunge, und er hatte sie auch nicht um ihre Meinung zu dem Thema gebeten. Aber Herrgott noch mal, es war das erste Mal, dass die beiden sich getroffen hatten, und wo würde die Welt noch enden — oder besser, wo würde Freddie enden —, wenn Männer und Frauen einander im Bett ausprobierten? Wenn sie sich erkundeten wie Kinder beim Doktorspielen? Freddie behauptete, es wäre ihre Idee gewesen. Die Frau hatte es vorgeschlagen! Laut Freddie hatte sie gesagt:»Es hätte ja wohl keinen Zweck, uns noch mal zu treffen, wenn wir sexuell inkompatibel wären, oder findest du nicht?«
Na ja, Freddie war ein Mann. Wie hätte er denn auf so ein Angebot reagieren sollen? Um ein halbes Jahr Zeit bitten, um sich in aller Keuschheit über alle erdenklichen Themen, von Politik bis hin zu Fingerfertigkeit auszutauschen? Außerdem fand er den Vorschlag gar nicht so dumm. Schließlich hatten sich die Zeiten geändert. Also waren sie nach zwei Glas Wein im Pub nach Hause gekommen und ins Bett gehüpft. Offenbar hatte nicht nur alles reibungslos funktioniert, sondern es hatte ihnen auch noch gefallen, und so hatten sie es noch zweimal getan, so Freddie, und sie war über Nacht geblieben. Und als Manette am Morgen nach unten gekommen war, hatten sie zusammen in der Küche gesessen und Kaffee getrunken. Die Frau hatte nichts anderes angehabt als eins von Freddies Hemden, so dass nicht nur ihre langen Beine, sondern auch ein Teil ihres Hinterns zu sehen war. Wie eine Katze, der die Federn des Kanarienvogels am Maul kleben, sagte sie:»Guten Morgen. Sie sind bestimmt Freddies Ex. Ich bin Holly.«
Holly? Holly! Was war das denn für ein Name? Manette schaute Freddie an — der zumindest den Anstand besaß zu erröten —, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und trat den Rückzug in ihr Zimmer an. Kurz darauf klopfte Freddie an ihre Tür und entschuldigte sich für die peinliche Situation — nicht etwa dafür, dass die Frau über Nacht geblieben war — und versprach, typisch Freddie, demnächst» bei ihnen «zu übernachten.»Es ist einfach alles ziemlich schnell gegangen«, fügte er hinzu.»Das hatte ich so nicht geplant.«
Aber Manette hatte genau gehört, dass er gesagt hatte» bei ihnen«, und so hatte sie endlich begriffen, dass die Zeiten sich geändert hatten und dass Kopulation die moderne Version des Händeschüttelns war.»Soll das heißen, du hast vor, eine nach der anderen auszuprobieren?«, hatte sie gestammelt.
«Na ja, sieht so aus, als würde das heutzutage so laufen.«