Sie hatte versucht, ihm klarzumachen, dass das der reine Wahnsinn war. Sie hatte ihm einen Vortrag über sexuell übertragbare Krankheiten gehalten, über ungewollte Schwangerschaften, über sexuelle Abhängigkeit, über alles, was ihr zu dem Thema eingefallen war. Was sie nicht gesagt hatte, war, dass sie es doch gut hatten, dass es schön war zusammenzuwohnen, denn sie wollte nicht hören, dass er ihr sagte, es sei an der Zeit, getrennte Wege zu gehen. Aber am Ende hatte er sie auf die Stirn geküsst, ihr gesagt, sie solle sich keine Sorgen um ihn machen, ihr eröffnet, dass er am Abend eine weitere Verabredung hatte, weshalb er womöglich aushäusig übernachten würde. Er würde mit seinem eigenen Wagen fahren, sagte er, denn die Frau, mit der er verabredet war, wohnte in Barrow-in-Furness, und sie wollten sich in einem Nachtclub namens Scorpio treffen. Falls sie also noch mit ihm in die Koje wollte — er sagte tatsächlich» in die Koje«—, würden sie zu ihr fahren, weil der Weg bis Great Urswick zu lang war, wenn sie erst einmal füreinander entflammt waren.
«Aber Freddie …!«, stöhnte Manette, mehr gab es dazu nicht zu sagen. Schließlich konnte sie ihm nicht vorwerfen, er sei untreu oder er zerstöre ihre Beziehung oder er handle überstürzt. Sie waren nicht mehr verheiratet, sie hatten so gut wie keine Beziehung mehr, und ihre Scheidung lag schon so lange zurück, dass Freddies Entschluss, sich wieder in den Markt zu stürzen, nicht überstürzt gefallen war. Er war einfach so ein Typ. Und man brauchte ihn nur anzusehen, um zu verstehen, dass die Frauen auf ihn flogen: Er sah frisch und sympathisch und einfach gut aus.
Nein, sie hatte kein Recht, sich zu beklagen, und das wusste sie. Trotzdem trauerte sie um etwas, das sie verloren hatte.
Im Moment gab es Dinge, die wichtiger waren als ihre Probleme mit Freddie, und auch wenn sie das nach der Auseinandersetzung mit Niamh Cresswell nicht gedacht hatte, war sie plötzlich dankbar dafür. Irgendetwas musste unternommen werden. Was Niamh anging, war Manette machtlos, aber bei Tim und Gracie sah das ganz anders aus. Wenn sie einen Berg bewegen musste, um den Kindern zu helfen, dann würde sie genau das tun.
Sie fuhr nach Ireleth Hall. Es war ziemlich wahrscheinlich, dass sie Kaveh Mehran dort antreffen würde, denn er war von Valerie damit beauftragt worden, einen Fantasiegarten für Kinder zu entwerfen und die Umsetzung seines Entwurfs zu beaufsichtigen. Der Garten war für die zukünftigen Kinder von Nicholas und Alatea vorgesehen, und in Anbetracht der Größe des dafür vorgesehen Areals sollte man meinen, dass Valerie mit Dutzenden von Enkelkindern rechnete.
Als Manette in der Einfahrt hielt, sah sie sofort, dass sie Glück hatte. Sie ging um den weitläufigen, skurrilen Formschnittgarten herum zu der Stelle, wo der Fantasiegarten angelegt wurde. Dort traf sie nicht nur Kaveh Mehran an, sondern auch ihren Vater. Bei den beiden stand ein Mann, den Manette nicht kannte, bei dem es sich aber vermutlich um den Grafen handelte, von dem ihre Schwester ihr am Telefon erzählt hatte.
«Witwer«, hatte Mignon verächtlich gesagt. Im Hintergrund hatte Manette das Klappern der Tastatur gehört und daraus geschlossen, dass ihre Schwester wie üblich beim Telefonieren die E-Mails ihrer Internet-Liebhaber beantwortete.»Eigentlich ziemlich offensichtlich, warum Dad ihn aus London hierhergeholt hat. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und jetzt, wo ich die Operation hinter mir und so viel abgenommen habe, glaubt er, ich bin reif für einen Mann. Wie die Prinzessin, die auf den Ritter auf dem weißen Ross wartet. Gott, wie peinlich. Soll er weiterträumen. Mir gefällt mein Leben, wie es ist.«
Manette würde es ihrem Vater glatt zutrauen. Er versuchte schon seit Jahren, Mignon loszuwerden, aber Mignon hatte ihn genau da, wo sie ihn haben wollte, und sie hatte nicht die Absicht, daran etwas zu ändern. Warum Bernard Mignon nicht an die Luft setzte, war Manette schleierhaft. Seit Bernard vor sechs Jahren den Turm für Mignon hatte bauen lassen, hegte Manette allerdings den Verdacht, dass ihre Zwillingsschwester etwas über ihren Vater wusste, was ihn ruinieren könnte, falls sie es ausplauderte. Manette hatte keine Ahnung, was das sein könnte, aber es musste etwas von Bedeutung sein.
Offenbar führte Kaveh Mehran den beiden anderen Männern gerade die Fortschritte der Arbeiten an dem Fantasiegarten vor. Er zeigte auf mit Planen geschützte Holzstapel, auf Steinhaufen, auf Pfosten, zwischen denen Seile gespannt waren. Manette rief von Weitem Hallo und ging auf die Männer zu.
Mignon war nicht ganz bei Trost, dachte Manette, als die drei Männer sich ihr zuwandten.»Der Witwer «aus London wirkte nicht, als wäre er als potentieller Mann für sie herbeigerufen worden. Der Mann war groß, blond, unglaublich attraktiv und auf die typisch dezente, leicht zerknitterte Weise elegant gekleidet, die nach altem Geld roch. Wenn er Witwer und tatsächlich auf der Suche nach Ehefrau Nummer zwei oder zweihundertzweiundzwanzig war, dann würde er auf keinen Fall ihre Schwester erwählen. Die Fähigkeit des Menschen zur Selbsttäuschung kannte keine Grenzen, dachte Manette.
Bernard lächelte Manette an und stellte sie dem blonden Mann vor. Tommy Lynley hieß der Graf, allerdings wurde nicht erwähnt, wo seine Grafschaft lag. Er hatte einen festen Händedruck, eine interessante alte Narbe an der Oberlippe, ein angenehmes Lächeln und dunkelbraune Augen, die nicht zu seinem hellblonden Haar zu passen schienen. Er war geübt im Smalltalk, dachte Manette, und verhalf anderen dazu, sich zu entspannen. Ein herrlicher Tag und ein schöner Ort, sagte er zu ihr. Er selbst sei ursprünglich aus Cornwall, südlich von Penzance, auch eine sehr schöne Gegend, und er sei das erste Mal in Cumbria. Aber nach allem, was er um Ireleth Hall herum gesehen habe, sei er entschlossen, häufiger herzukommen.
Sehr charmant ausgedrückt, dachte Manette. Sehr höflich. Hätte er dasselbe zu Mignon gesagt, hätte sie garantiert alles Mögliche in die Worte hineingelegt. Manette meinte nur dazu:»Sie sollten mal im Winter herkommen, das würde Sie eines Besseren belehren«, und dann zu Kaveh Mehran:»Ich würde gern kurz mit dir reden, falls du Zeit hast.«
Ihr Vater hatte großen Erfolg als Industrieller, weil er ein untrügliches Gespür für Zwischentöne besaß. Er fragte:»Was ist los, Manette?«, und als sie einen verstohlenen Blick zu Lynley hinüberwarf, fügte er hinzu:»Tommy ist ein guter Freund. Er weiß von der Familientragödie. Gibt es noch etwas …?«
«Niamh«, sagte Manette.
«Was ist mit ihr?«
Erneut ein nervöser Blick in Lynleys Richtung.»Ich glaube nicht, dass du …«
Lynley wollte sich schon entschuldigen, aber Bernard sagte:»Nein, nein, bleiben Sie. «Und zu Manette:»Ich sagte, er ist ein guter Freund. So schlimm kann es ja nicht sein …«
Also gut, dachte Manette, wie du willst.»Niamh hat die Kinder noch immer nicht zu sich genommen«, sagte sie.»Sie wohnen nach wie vor bei Kaveh. Wir müssen etwas unternehmen.«
Bernard schaute stirnrunzelnd zu Kaveh hinüber, dann raunte er Lynley zu:»Es geht um die Witwe meines verstorbenen Neffen.«
«Das ist einfach nicht in Ordnung«, sagte Manette.»Und das weiß sie ganz genau, aber es ist ihr egal. Ich habe gestern mit ihr gesprochen. Sie war aufgedonnert wie eine Zirkuspuppe, und mitten in der Küche stand ein Eimer voll Sexspielzeug. Sie hat einen Liebhaber, der zu ihr kommt, um sich mit ihr zu vergnügen, und da sind Tim und Gracie eben im Weg.«
Bernards Blick huschte erneut zu Kaveh hinüber.»Einfach nicht in Ordnung, Manette?«, sagte der junge Mann. Er war nicht unhöflich, aber sein Ton machte deutlich, dass er Manette falsch verstanden hatte.
Sie sagte:»Herrgott, Kaveh. Du weißt, dass ich nicht über deine Neigungen rede. Du kannst von mir aus so schwul sein, wie du willst, aber wenn es um Kinder geht …«
«Ich habe kein Interesse an Kindern.«
«Genau das ist der springende Punkt, nicht wahr?«, fauchte Manette, seine Bemerkung absichtlich falsch deutend.»Wer ein Interesse an Kindern mitbringt, übernimmt auch Verantwortung für sie. Tim und Gracie gehören in die Obhut der Familie, und was auch immer Kaveh sein mag, Dad, zur Familie gehört er nicht.«