«Manette …«In Bernards Stimme lag ein drohender Unterton. Offenbar gab es Einzelheiten, die er Lynley im Gegensatz zu seinen anfänglichen Beteuerungen lieber vorenthalten würde. Tja, da hatte er einfach Pech, dachte Manette, denn eben noch hatte er sie aufgefordert, in Gegenwart dieses Londoners offen zu sprechen, und genau das hatte sie vor.
Sie sagte:»Ian wollte, dass die Kinder bei ihm in Bryanbarrow wohnten. Das konnte ich verstehen, und ich hatte nichts dagegen, denn auf diese Weise hielt er sie weitgehend von Niamh fern, die etwa so mütterlich ist wie ein weißer Hai. Aber Ian kann nicht gewollt haben, dass die Kinder im Fall seines Todes bei Kaveh bleiben. Das weißt du doch auch, Kaveh. «Dann schaute sie wieder ihren Vater an.»Du musst also mit Niamh reden. Du musst sie in die Pflicht nehmen. Du musst irgendetwas unternehmen. Tim ist vollkommen aus der Bahn geraten, und Gracie braucht jetzt mehr denn je eine Mutter. Wenn Niamh nicht bereit ist, ihre Pflicht als Mutter zu erfüllen, dann muss jemand anders das übernehmen.«
«Ich verstehe, was du meinst«, sagte Bernard.»Wir unterhalten uns später darüber.«
«Nein, das geht nicht, Dad, tut mir leid. «Zu Lynley sagte sie:»Hier geht’s ans Eingemachte, und es kommt noch schlimmer. Falls Ihnen das zu viel wird …«
Lynley sagte zu Bernard:»Vielleicht kann ich irgendwie behilflich sein?«Woraufhin etwas zwischen den beiden passierte, irgendeine Art von stummer Verständigung, dachte Manette. Jedenfalls schien ihr Vaters plötzlich nichts mehr dagegen zu haben, dass Lynley alles mithörte.
Manette sagte:»Tim ist auf mich losgegangen. Nein, nein, er hat mich nicht verletzt. Ich habe ein paar blaue Flecken abbekommen, aber darum geht es nicht. Wir müssen uns um ihn kümmern — wir müssen die ganze verdammte Situation in den Griff bekommen —, und da Kaveh nicht ewig in dem Haus wohnen bleiben wird, ist es in unser aller Interesse, diesen Punkt zu klären, bevor das Haus verkauft wird. Denn was passiert mit den Kindern, wenn Kaveh ausziehen muss? Ziehen sie mit ihm um? Und wenn, wohin? Das kann nicht so weitergehen. Die Kinder können nicht immer wieder aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen werden.«
«Er hat es mir vermacht«, sagte Kaveh.»Ich werde nicht ausziehen.«
Manette fuhr zu ihm herum.»Was?«
«Das Haus, Manette. Ich ziehe nicht weg. Er hat mir das Haus vererbt.«
«Dir? Warum?«
Mit einer Würde, die Manette bewundern musste, antwortete er:»Weil er mich geliebt hat. Weil er mein Lebensgefährte war und weil es das ist, was Lebensgefährten tun: Sie treffen Vorkehrungen für den Fall, dass einer von ihnen stirbt.«
Schweigen. Ein paar Dohlen krächzten in die Stille hinein. Der Geruch nach verbranntem Laub lag in der Luft, als befände sich das Feuer ganz in der Nähe.
«Männer sorgen in der Regel auch für ihre Kinder«, sagte Manette.»Tim und Gracie hätten eigentlich das Haus erben müssen. Es müsste ihnen gehören, damit sie es verkaufen können, wenn sie später mal Geld brauchen.«
Kaveh wandte sich ab. Seine Kiefermuskeln arbeiteten, als könnte ihm das helfen, sich zu beherrschen.»Ich glaube, für den Fall hat er eine Versicherung abgeschlossen.«
«Wie praktisch. Wessen Idee war das denn, das Haus dir zu vererben und für die Kinder eine Versicherung abzuschließen? Wie hoch ist die Versicherung überhaupt? Und wer genau ist der Begünstigte? Denn wenn das Geld an Niamh geht, als Treuhänderin für die Kinder …«
«Manette«, fiel Bernard ihr ins Wort.»Darum geht es jetzt nicht. «Dann fragte er Kaveh:»Werden Sie das Haus behalten oder verkaufen, Kaveh?«
«Ich werde es behalten. Und Tim und Gracie können so lange bei mir wohnen bleiben, bis Niamh bereit ist, sie wieder zu sich zu nehmen. Und falls sie die Kinder überhaupt nicht mehr haben will, hätte Ian gewollt …«
«Nein, nein, nein!«Mehr wollte Manette nicht hören. Die Kinder gehörten in die Obhut der Familie, und Kaveh — ob er Ians Lebensgefährte gewesen war oder nicht — gehörte nun mal nicht zur Familie.»Dad«, sagte sie wütend,»du musst … Ian kann nicht gewollt haben … Weiß Niamh überhaupt davon?«
«Wovon?«, fragte Kaveh.»Und glaubst du allen Ernstes, dass sie das irgendwie interessiert?«
«Weiß sie, dass du das Haus erbst? Wann hat Ian das eigentlich verfügt?«
Kaveh zögerte, er schien zu überlegen, was er darauf antworten konnte. Manette musste seinen Namen zweimal aussprechen, um ihn zu einer Reaktion zu bewegen.»Ich weiß es nicht«, sagte er.
Bernard und Tommy Lynley tauschten Blicke aus. Manette bemerkte es und wusste sofort, dass die beiden dasselbe dachten wie sie. Kaveh log. Jetzt musste sie nur noch herausfinden, welche ihrer Fragen er mit» Ich weiß es nicht «beantwortet hatte.
«Was genau weißt du nicht?«, fragte sie.
«Ich weiß überhaupt nichts über Niamh. Sie hat das Geld von der Versicherung erhalten, und dabei handelt es sich um eine beträchtliche Summe. Ian hat sie als Begünstigte eingesetzt, damit sie genug Geld hat, um den Kindern ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Er glaubte natürlich, dass sie zur Besinnung kommen würde, falls ihm etwas zustieße.«
«Tja, leider ist das nicht passiert. Und es sieht auch nicht so aus, als würde sie in absehbarer Zeit zur Besinnung kommen.«
«Wenn es sein muss, dann bleiben sie eben bei mir. Sie wohnen ja schon da, und es geht ihnen gut.«
Lächerlich anzunehmen, dass es Tim Cresswell gut ging. Es ging ihm schon seit langer Zeit nicht gut. Manette sagte:»Und was soll passieren, wenn du in ein oder zwei Monaten jemand Neues kennenlernst, Kaveh? Wenn dein neuer Liebhaber zu dir zieht? Na? Was dann? Was sollen die Kinder dann tun? Was sollen sie denken?«
«Manette«, ermahnte Bernard seine Tochter.
Kaveh war blass geworden, aber er sagte nichts, nur seine Kiefermuskeln arbeiteten, und seine rechte Hand war zur Faust geballt.
Manette sagte:»Niamh wird vor Gericht gehen und das Testament anfechten. Sie wird dafür sorgen, dass die Kinder das Haus bekommen.«
«Manette, es reicht«, sagte ihr Vater seufzend.»Wir haben alle eine Menge Kummer zu verarbeiten, dich mit eingeschlossen.«
«Warum spielst du hier den Friedensstifter?«, fuhr sie ihren Vater an.»Er bedeutet uns nichts«, sagte sie mit einer Kopfbewegung in Richtung Kaveh.»Er bedeutet den Kindern nichts. Er ist ein dahergelaufener Kerl, für den Ian sein Leben weggeworfen hat und …«
«Ich sagte, es reicht!«, donnerte Bernard.»Nehmen Sie’s ihr nicht übel, Kaveh. Sie meint es nicht so …«
«Sie meint ganz genau, was sie sagt«, entgegnete Kaveh.»Das tun die meisten Menschen.«
Um sich aus dem Sumpf zu befreien, in den sie sich manövriert hatte, sagte Manette lahm:»Also gut. Hör zu. Abgesehen von allem anderen bist du zu jung, um für einen Vierzehnjährigen die Vaterrolle zu übernehmen, Kaveh. Er braucht einen Mann, der älter ist, der mehr Erfahrung hat, einen …«
«Der nicht homosexuell ist«, beendete Kaveh den Satz für sie.
«Das habe ich nicht gesagt. Und ich habe es auch nicht gemeint. Ich wollte sagen, einen aus der Familie.«
«Das hast du bereits mehrfach betont.«
«Es tut mir leid, Kaveh, es geht hier nicht um dich. Es geht um Tim und Gracie. Wir können den Kindern nicht noch mehr zumuten. Tim geht daran zugrunde. Und Gracie wird über kurz oder lang ebenfalls daran zugrunde gehen. Ich muss verhindern, dass ihre Welt noch mehr auseinanderfällt. Ich hoffe, das kannst du verstehen.«
«Lass die Dinge, wie sie sind, Manette«, sagte ihr Vater.»Im Moment haben wir andere Sorgen.«
«Und was sollte das sein?«