Er sagte nichts. Aber schon wieder tauschte er verstohlene Blicke mit seinem Londoner Freund aus, und zum ersten Mal fragte sich Manette, was hier eigentlich vor sich ging. Auf keinen Fall war der Mann hier, um wie ein Galan aus dem achtzehnten Jahrhundert das Herz ihrer hinterlistigen Schwester zu erobern und mit ihrem Geld seinen maroden Familiensitz in Cornwall instand zu setzen. Und dass ihr Vater darauf bestanden hatte, ihn das ganze Gespräch zwischen ihr und Kaveh mithören zu lassen, legte den Verdacht nahe, dass das stille Wasser, als das dieser Mann sich ausgab, so tief war, dass Nessie darin schwimmen konnte. Okay, davon durfte sie sich jetzt nicht beirren lassen. Sie durfte sich von gar nichts beirren lassen. Sie würde etwas für die Kinder ihres Vetters tun, und wenn ihr Vater nicht bereit war, mit ihr an einem Strang zu ziehen, dann würde es jemand anders tun. Und sie wusste auch schon, wer.
Sie hob die Hände und seufzte.»Also gut. «Zu Lynley sagte sie:»Tut mir leid, dass Sie sich das alles anhören mussten.«
Er nickte höflich. Aber sein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass all die neuen Informationen ihm durchaus willkommen waren.
Der Tag zuvor war ein Reinfall gewesen. Nachdem Tim zwei Stunden lang an der Straße gestanden hatte, hatte er es aufgegeben, nach Windermere zu trampen. Aber heute würde er sein Ziel erreichen.
Kurz bevor er den langen Fußmarsch von Bryanbarrow durch das Lyth Valley angetreten hatte — der anstrengendste Teil seines Ausflugs —, hatte es angefangen zu regnen. Bestimmt würde ihn niemand mitnehmen, denn die Straße war kaum befahren, und wenn hin und wieder ein Bauer auf einem Traktor vorbeituckerte, war der so langsam und fuhr so eine kurze Strecke, dass er zu Fuß mindestens genauso schnell vorankam. Aber mit dem Regen hatte er nicht gerechnet. Das war ziemlich dumm, weil er nur ein T-Shirt und darüber ein Flanellhemd und darüber ein Sweatshirt mit Kapuze trug, und nichts davon war wasserdicht. Außerdem trug er Sportschuhe, die zwar noch nicht durchnässt, aber bis an die Knöchel voll Schlamm waren, weil der Straßenrand wie immer um diese beknackte Jahreszeit völlig aufgeweicht war. Seine Jeans wurden mit jedem Schritt, den er durch den Regen lief, schwerer. Und da sie ihm viel zu groß waren, musste er sie dauernd hochziehen, damit sie ihm nicht vom Hintern rutschten.
Unten im Tal angekommen, gelang es ihm tatsächlich, ein Auto anzuhalten, ein Lichtblick an diesem verkackten Tag. Es war ein Bauer in einem Land Rover, dessen Kotflügel komplett mit Schlamm beschmiert waren. Der Bauer öffnete die Beifahrertür und sagte:»Steig ein, mein Junge. Du siehst ja aus, als wärst du in den Straßengraben gefallen. Wo willst du denn hin?«
Tim sagte Newby Bridge — was in der entgegengesetzten Richtung lag —, denn es kam ihm irgendwie merkwürdig vor, wie der Typ ihn musterte. Außerdem wollte er nicht, dass man seine Spur verfolgen konnte. Wenn alles wie geplant ablief, wenn sein Name und sein Bild in der Zeitung erschienen und dieser Typ ihn erkannte, dann sollte er, wenn er bei der Polizei anrief, sagen:»Ich erinnere mich an den Jungen. Der hat gesagt, er wollte nach Newby Bridge.«
Der Bauer sagte:»Ach so, Newby Bridge«, und fuhr los. Er sagte, er könne ihn bis Winster mitnehmen, und dann wollte er natürlich wissen, warum Tim nicht in der Schule war.»Heute ist doch ein Schultag, oder? Hast wohl geschwänzt?«
Tim war es gewöhnt, dass Erwachsene dauernd irgendwelche Fragen nach Dingen stellten, die sie einen Scheißdreck angingen. Und jedes Mal würde er denen am liebsten die Augen auskratzen. Einem anderen Erwachsenen würden sie solche Fragen nie stellen —»Warum sind Sie heute nicht bei der Arbeit wie jeder anständige Mensch?«—, aber einem Jugendlichen konnten sie mit jedem Mist kommen. Er hatte mit der Frage gerechnet und sagte:»Kucken Sie mal auf die Uhr. Die Schule ist für heute schon aus.«
«Für meine drei nicht«, sagte der Farmer.»Auf welche Schule gehst du denn?«
Herrgott, dachte Tim. Welche Schule er besuchte, ging den Alten genauso viel an, wie wann er zuletzt geschissen hatte. Er sagte:»Hier in der Gegend. Margaret Fox. In der Nähe von Ulverston. «Wahrscheinlich hatte der Typ noch nie von der Schule gehört.»’ne unabhängige Schule. ’n Internat, aber ich bin Externer.«
«Und was ist mit deinen Händen passiert?«, wollte der Bauer wissen.
Tim biss die Zähne zusammen.»Hab mich geschnitten. Muss ’n bisschen besser aufpassen.«
«Geschnitten? Das sieht aber nicht so aus, als hättest du dich …«
«Hören Sie, halten Sie einfach hier an«, sagte Tim.»Sie können mich hier aussteigen lassen.«
«Wir sind aber noch lange nicht in Winster, Junge. «Das stimmte sogar. Sie waren kaum anderthalb Kilometer weit gekommen.
«Lassen Sie mich einfach hier raus, okay?«, sagte Tim so ruhig, wie er nur konnte. Er wollte auf keinen Fall zu aggressiv werden, das war allzu verräterisch. Aber er wusste, wenn der Alte nicht auf der Stelle anhielt, dann würde was Schlimmes passieren.
Der Bauer zuckte die Achseln. Er fuhr an den Straßenrand. Er schaute Tim lange und durchdringend an, wahrscheinlich, um sich sein Gesicht einzuprägen, dachte Tim. Wenn die nächsten Nachrichten im Radio kamen, würde er jeden Raubüberfall oder böswilligen Vandalismus Tim anhängen. Okay, das Risiko musste er eingehen. Besser, als noch länger bei dem Typen im Auto zu sitzen.
«Pass auf dich auf, Junge«, sagte der Bauer, ehe Tim die Tür mit voller Wucht zuknallte.
«Leck mich«, murmelte Tim, als der Land Rover weiterfuhr. Wütend biss er sich in den Handrücken.
Beim nächsten Mal hatte er mehr Glück. Ein deutsches Paar nahm ihn mit bis Crook, wo sie abbogen, weil sie irgendein scheißvornehmes Hotel gebucht hatten. Sie sprachen ziemlich gut Englisch, aber das Einzige, was sie zu ihm sagten, war» Ach, der viele Regen hier in Cumbria«, und wenn sie miteinander redeten, und das taten sie die meiste Zeit, sprachen sie natürlich Deutsch, in kurzen, abgehackten Sätzen und, so schien es ihm, über irgendjemanden namens Heidi.
Kurz hinter der Crook Road hielt ein Lastwagenfahrer. Der Typ fuhr bis nach Keswick, er könne Tim bis nach Windermere mitnehmen, sagte er, kein Problem.
Ein Problem war allerdings, dass der Fahrer es für nötig hielt, Tim einen Vortrag über die Gefahren des Trampens zu halten. Ob seine Eltern wüssten, dass er allein unterwegs war und zu Fremden ins Auto stieg? Du kennst mich ja nicht mal, sagte er. Ich könnte Sutcliffe sein. Oder Brady. Ich könnte ein Kinderschänder sein, der dir an die Wäsche will. Verstehst du, was ich meine?
Tim ertrug das alles, ohne dem Typen eine in die Fresse zu hauen, was er am liebsten getan hätte. Er nickte, sagte:»Ja, sicher«, und als sie endlich in Windermere waren, sagte er:»Lassen Sie mich da an der Bibliothek aussteigen. «Der Fahrer tat ihm den Gefallen, aber nicht, ohne noch einmal zu betonen, was Tim für ein Glück hatte, dass er sich nicht für zwölfjährige Jungs interessierte. Und weil das wirklich zu viel war, sagte Tim ihm, dass er vierzehn sei, nicht zwölf. Der Lastwagenfahrer lachte laut und erwiderte:»Nie im Leben! Und was versteckst du da überhaupt unter deinen weiten Sachen? Wahrscheinlich bist du in Wirklichkeit ein Mädchen, ha ha!«Woraufhin Tim die Beifahrertür zugeknallt hatte.
Er war restlos am Ende mit seiner Geduld. Am liebsten wäre er in die Bibliothek marschiert und hätte sämtliche Bücher aus den Regalen gerissen. Aber das würde ihm überhaupt nichts nützen. Also biss er sich so lange in die Fingerknöchel, bis er Blut schmeckte, und das beruhigte ihn ein bisschen. Er atmete tief durch und machte sich auf den Weg ins Geschäftsviertel.
Selbst um diese Jahreszeit gab es Touristen in Windermere. Es war natürlich längst nicht so schlimm wie im Sommer, wo man auf Schritt und Tritt von irgendeinem mit Rucksack und Wanderstab bewaffneten Touristen über den Haufen gerannt wurde. Im Sommer fuhr kein Einheimischer, der halbwegs bei Trost war, in die Stadt, weil die Straßen dann hoffnungslos verstopft waren. Jetzt war es nicht so voll hier, und die paar hartgesottenen Naturfreaks, die bei dem Wetter hier herumtrotteten, sahen mit den dunkelgrünen Regencapes, die sie über ihren Rucksäcken trugen, aus, als hätten sie riesige Buckel. Tim ging an ihnen vorbei Richtung Geschäftszentrum, wohin die Touristen sich nicht verirrten, weil sie dort nichts zu suchen hatten.