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Deborah St. James versuchte nicht einmal, sich zu verstecken. Was möchten Sie fotografiert haben? lautete das Motto ihrer Webseite, und man konnte verschiedene Links anklicken, um sich ihre Arbeiten anzusehen. Sie war Kunstfotografin, wenn man das denn so nannte. Sie machte die Art Fotos, die in Kunstgalerien verkauft wurden: Landschaftsaufnahmen, Porträts, Stillleben, Sportszenen, Schnappschüsse von Alltagsszenen auf der Straße. Sie arbeitete hauptsächlich in Schwarzweiß, hatte bereits mehrere Ausstellungen gehabt und bei Fotowettbewerben Preise gewonnen. Sie war zweifellos gut in ihrem Beruf, aber sie war auf keinen Fall Location-Scout für die Filmgesellschaft Query Productions.

Eine Filmgesellschaft dieses Namens existierte gar nicht. Auch das hatte Alatea herausgefunden. Doch das hatte sie ihrem Mann nicht gesagt, denn sie konnte sich schon denken, wohin das führen würde. Es würde eine logische Frage aufwerfen, und Nicholas würde sie natürlich stellen: Was machte Deborah St. James dann hier? Alatea wollte nicht, dass er diese Frage stellte. Das würde nämlich bedeuten, dass sie sich Gedanken über eine mögliche Antwort machen müssten. Was möchten Sie fotografiert haben? sagte alles. Die Frage, mit der sie sich auseinandersetzen mussten, lautete: Was hatte Deborah St. James vor mit den Fotos, die sie hier machte?

Aber das Thema war zu heikel, um es mit ihrem Mann zu erörtern, und deshalb hatte Alatea gesagt:»Es macht mich nervös, dass sie hier herumläuft, Nickie. Irgendetwas an ihr gefällt mir nicht.«

Sie hatten im Bett gelegen, und er hatte sich auf die Seite gedreht, den Kopf in eine Hand gestützt und sie stirnrunzelnd angesehen. Ohne seine Brille konnte er sie nur verschwommen sehen, dennoch hatte er sie eindringlich gemustert, und was er in ihrem Gesicht zu sehen meinte, hatte ihm ein Lächeln entlockt.»Weil sie Fotografin ist oder weil sie eine Frau ist?«, hatte er gefragt.»Dann lass mich dir eins sagen, geliebte Gattin: Falls Letzteres der Fall ist, kannst du dich beruhigen — über dieses Thema brauchst du dir niemals Gedanken zu machen. «Dann hatte er sich über sie hergemacht, um ihr zu beweisen, dass er es ernst meinte, und sie hatte es zugelassen. Sie hatte es sogar gewollt, nichts konnte sie so gut von ihren dunklen Gedanken ablenken wie Sex mit Nicholas. Aber hinterher waren die Sorgen und die Angst wiedergekommen wie die Flut in die Morecambe Bay. Es gab kein Entrinnen, und sie fürchtete, in der schnell steigenden Flut zu ertrinken.

Er hatte es gespürt. Sie konnte ihm einfach nichts vormachen. Zwar wusste er ihre Anspannung nicht zu deuten, doch er spürte sie.»Warum machst du dich so verrückt deswegen?«, hatte er gefragt.»Sie ist freiberufliche Fotografin, und solche Leute werden angeheuert, um für ihre Auftraggeber Fotos zu machen. Deswegen ist sie hier. «Er rückte zurück in seine Hälfte des Betts.»Ich glaube, wir brauchen eine Auszeit«, sagte er liebevoll.»Wir arbeiten schon viel zu lange viel zu viel. Du ackerst von morgens bis abends, damit die Restaurierungsarbeiten hier am Haus vorangehen, und ich rase jeden Tag zwischen dem Turm und Barrow hin und her. «Er lächelte sie reumütig an.»Süchtige sind egoistische Mistkerle, Allie. Und ich bin ein Musterbeispiel.«

Sie fragte:»Warum brauchst du das?«

«Eine Auszeit? Dich? Sex mit dir?«Er grinste.»Ich hoffe, die letzte Frage war überflüssig …«

«Dein Vater«, sagte sie.»Warum musst du dich ihm beweisen?«

«Weil ich ihm jahrelang das Leben zur Hölle gemacht habe«, antwortete er überrascht.»Und meiner Mutter ebenfalls.«

«Du kannst die Vergangenheit nicht neu schreiben, Nickie.«

«Aber ich kann etwas wiedergutmachen. Ich habe ihnen Jahre ihres Lebens geraubt, und die möchte ich ihnen zurückgeben, wenn ich kann. Würdest du das an meiner Stelle nicht auch versuchen?«

«Jeder«, sagte sie,»sollte sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen gestalten. Du tust jedoch etwas anderes. Du versuchst, den Vorstellungen von jemand anderem gerecht zu werden.«

Er blinzelte, und einen ganz kurzen Moment lang hatte er gekränkt gewirkt.»In dem Punkt werden wir uns wohl nicht einigen können«, sagte er.»Warte einfach ab, wie die Dinge sich entwickeln, wie sich alles ändert für mich, für dich, für die Familie.«

«Deine Familie …«

«Nein, ich rede nicht von meiner Familie«, war er ihr ins Wort gefallen.»Ich rede von unserer Familie. Von deiner und meiner. Von der Familie, die wir beide gründen werden. Von da an wird alles besser werden, du wirst schon sehen.«

Am nächsten Morgen hatte sie einen erneuten Anlauf gemacht, aber diesmal versuchte sie es über einen Umweg.»Geh heute nicht zur Arbeit«, sagte sie.»Bleib bei mir. Fahr nicht zum Turm.«

Seine Antwort» Was für ein verführerischer Vorschlag «hatte ihr Hoffnung gemacht, doch dann hatte er hinzugefügt:»Aber ich muss zur Arbeit, Allie. Ich habe mir schon einen Tag freigenommen.«

«Nickie, du bist der Sohn des Chefs! Wenn du dir keinen Tag freinehmen kannst …«

«Ich bin Fließbandarbeiter in der Versandabteilung. Irgendwann werde ich vielleicht wieder der Sohn des Chefs sein. Aber noch bin ich das nicht.«

Und so waren sie wieder da, wo sie angefangen hatten. Alatea wusste, dass sie so nicht weiterkamen. Und jetzt musste sie sich dazu auch noch mit Query Productions auseinandersetzen, beziehungsweise mit der Tatsache, dass diese Gesellschaft gar nicht existierte. Das konnte nur eins bedeuten: Dass diese Fotografin nach Cumbria gekommen war, hatte nichts mit Nicholas’ Projekt zu tun, und auch nichts mit seiner Absicht, sich mit seinen Eltern auszusöhnen und ein neues Leben zu beginnen. Was wiederum bedeutete, dass es nur eine Erklärung für die Anwesenheit der Frau gab. Was wollen Sie fotografiert haben? sagte alles.

Der Abstieg vom Arnside Knott kostete Alatea mehr Zeit als der Aufstieg. Die Geröllfelder waren glitschig nach dem Regen. Sie lief Gefahr, auf den losen Gesteinsbrocken auszurutschen und den Abhang hinunterzufallen. Auch der von Herbstlaub übersäte Boden unter den Kastanien weiter unten war gefährlich, zumal es schnell dunkel wurde. Und so war Vorsicht ihr einziger Gedanke auf dem Heimweg. Und derselbe Gedanke veranlasste sie, kaum zu Hause angekommen, nach dem Telefon zu greifen.

Seit sie diese Nummer zum ersten Mal gewählt hatte, trug sie sie immer bei sich. Es widerstrebte ihr zutiefst zu tun, was sie tun musste, aber sie sah keine andere Möglichkeit. Sie nahm die Visitenkarte aus ihrer Tasche, holte mehrmals tief Luft, gab die Ziffern ein und wartete auf das Freizeichen. Als auf der anderen Seite abgenommen wurde, stellte sie die einzige Frage, die für sie jetzt noch eine Rolle spielte.

«Ich möchte nicht drängen, aber … haben Sie über mein Angebot nachgedacht?«

«Ja.«

«Und?«

«Wir sollten uns treffen, um noch einmal darüber zu reden.«

«Und das bedeutet?«

«Bleibt es bei der Summe? War das ernst gemeint?«

«Ja, ja, natürlich war das ernst gemeint.«

«Ich denke, dann werde ich Ihren Auftrag ausführen können.«

MILNTHORPE — CUMBRIA

Lynley hatte die beiden in einem Restaurant namens Fresh Taste in der Church Street in Milnthorpe aufgespürt, wo sie» ein absolut langweiliges Curry «gegessen hatten, wie Deborah sich ausdrückte. St. James fügte hinzu:»Wir hatten die Wahl zwischen dem hier, einem China-Imbiss oder Pizza. Ich war für Pizza, wurde aber überstimmt.«

Nach dem Essen hatten sie sich einen Limoncello bestellt, der ihnen in sehr großen Gläsern serviert wurde, was mindestens ebenso verwunderlich war wie die Tatsache, dass ein indisches Lokal diesen italienischen Likör überhaupt ausschenkte.»Nach neun Uhr abends findet es Simon ganz lustig, wenn ich ein bisschen beschwipst bin«, war Deborahs Kommentar zur Größe der Gläser.»Dann werde ich nämlich zu Wachs in seinen geschickten Händen. Allerdings bezweifle ich, dass er sich schon überlegt hat, wie er mich ins Hotel schaffen soll, wenn ich mein Glas austrinke.«