«Ah, sie heißt also Sarah?«Wenigstens ein richtiger Name und keine modische Abkürzung, dachte Manette.»Und?«, fragte sie, obwohl sie es eigentlich gar nicht so genau wissen wollte.»Gibt’s grausige Details? Da sich in meinem Leben nichts ereignet, wie du weißt, freue ich mich immer über erheiternde Erlebnisberichte. «Sie betrat das Zimmer und setzte sich provokativ in den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
Er errötete erneut. Diesmal noch tiefer.»Sei nicht so neugierig«, sagte er.
«Aber ihr habt’s getan, oder?«
«Getan? Was soll das denn heißen?«
Sie legte den Kopf schief und sah ihn bedeutungsvoll an.»Freddie …«
«Also gut, ja. Ich meine, ich hab dir doch erklärt, wie das heutzutage läuft. Wenn Leute sich zu einem Date treffen. Also ja, wir haben’s getan.«
«Mehr als einmal?«Sie ärgerte sich über sich selbst, doch plötzlich musste sie es einfach wissen. Und der Grund, warum sie es wissen musste, war, dass sie und Freddie in all den Jahren, in denen sie zusammen gewesen waren — selbst ganz am Anfang, als sie zwanzig Jahre alt und ein halbes Jahr lang vollkommen verrückt aufeinander gewesen waren —, nie häufiger als einmal innerhalb von vierundzwanzig Stunden übereinander hergefallen waren.
Freddie war ganz der schockierte Gentleman.»Mein Gott, Manette«, sagte er.»Es gibt Dinge …«
«Also ja. Mehr als einmal. Öfter als mit Holly? Schützt du dich überhaupt, Freddie?«
«Ich würde das Thema jetzt gern beenden«, sagte Freddie.
«Und was ist heute Abend? Triffst du dich heute Abend wieder mit einer anderen?«
«Nein, heute Abend treffe ich mich wieder mit Sarah.«
Manette schlug die Beine übereinander. Sie wünschte, sie hätte eine Zigarette. Sie hatte geraucht, als sie jung war, und hatte seit Jahren nicht mehr an Zigaretten gedacht, aber plötzlich hätte sie gern etwas gehabt, um ihre Hände zu beschäftigen. Sie nahm den Behälter mit den Büroklammern vom Schreibtisch und begann, damit zu spielen.»Ich finde das interessant«, sagte sie.»Da ihr es schon getan, sozusagen hinter euch gebracht habt, was steht als Nächstes an? Familienfotos? Oder diskutiert ihr über Erbkrankheiten und darüber, wer wessen Namen annimmt?«
Er sah sie seltsam an. Wahrscheinlich dachte er über ihre Bemerkung nach und legte sich eine Antwort zurecht. Aber ehe er aussprechen konnte, was er garantiert sagen würde —»Warum regst du dich eigentlich auf? Wir sind schon seit Ewigkeiten geschieden, wir waren uns einig, dass wir als Freunde zusammenleben wollten, und obendrein habe ich nie ein Keuschheitsgelöbnis abgelegt«—, kam sie ihm zuvor:»Also, kommst du denn heute Abend nach Hause, oder übernachtest du wieder bei Sarah?«
Er zuckte die Achseln.»Das weiß ich noch nicht«, sagte er.
«Natürlich. Wie auch? Tut mir leid. Ich hoffe, du bringst sie mal mit. Ich würde sie gern kennenlernen. Sag mir einfach vorher Bescheid, damit ich nicht mit nacktem Hintern am Frühstückstisch erscheine.«
«Klar. Kein Problem. Das neulich war eine ziemlich spontane Geschichte gewesen. Das mit Holly, meine ich. Da wusste ich noch nicht, wie diese Dinge heutzutage ablaufen. Aber jetzt, wo ich … na ja … man arrangiert sich. Und irgendwann muss man sich halt erklären …«
Diesmal war Manette verdattert. Es passte nicht zu Freddie, so herumzustottern.»Was ist los?«, fragte sie.»Gott, Freddie, du hast doch nicht etwa irgendwas … irgendwas Verrücktes angestellt, oder?«Sie wusste selbst nicht, was sie sich darunter vorstellte, aber Verrücktheiten passten einfach nicht zu Freddie. Er war geradlinig, offen und ehrlich.
«Nein, nein«, erwiderte er.»Es ist nur so … ich hab ihr noch nicht … Also, ich hab ihr nichts von dir erzählt.«
«Wie bitte? Du hast ihr nicht gesagt, dass du geschieden bist?«
«Doch, das weiß sie natürlich. Aber ich hab ihr nicht gesagt, dass wir … na ja, dass wir immer noch unter einem Dach wohnen.«
«Holly wusste es doch. Sie schien kein Problem damit zu haben. Heutzutage wohnen viele Leute in WGs.«
«Ja, sicher. Aber Sarah … Bei ihr war es irgendwie anders. Ich wollte das Risiko einfach nicht eingehen. «Er nahm die Computerausdrucke und legte sie zu einem ordentlichen Stapel zusammen.»Ich bin schon lange aus der Übung, Manette, das weißt du ja wohl. Bei den Frauen, die ich kennenlerne, lasse ich mich einfach von meinem Gefühl leiten.«
«Davon bin ich überzeugt«, entgegnete Manette schnippisch.
Eigentlich war sie zu ihm gegangen, um mit ihm über Tim und Gracie zu reden und über das Gespräch mit ihrem Vater. Doch jetzt schien es ihr auf einmal nicht mehr der rechte Moment. Und Freddie hatte ja eben gerade gesagt, dass man sich am besten auf sein Gefühl verlassen sollte. Sie stand auf.
«Dann erwarte ich dich also heute Abend nicht«, sagte sie.»Pass auf dich auf, okay? Es würde mir leidtun, wenn … ich weiß nicht … wenn dir etwas passieren würde. «Ehe er etwas darauf erwidern konnte, verließ sie das Zimmer und machte sich auf die Suche nach ihrem Bruder. Freddie führte sein Leben und sie das ihre, sagte sie sich, und es wurde allmählich Zeit, dass sie es Freddie gleichtat und ein bisschen Farbe in ihr Leben brachte. Allerdings wusste sie noch nicht so recht, wie sie das anstellen sollte. Sich in die unbekannte Welt des Internet-Dating zu stürzen, konnte sie sich jedenfalls nicht vorstellen. Mit einem wildfremden Mann ins Bett gehen, um festzustellen, ob man zusammenpasste? Sie schüttelte sich. Da konnte sie sich ja gleich einem Serienmörder an den Hals werfen, dachte sie. Oder vielleicht hatte sie auch zu viele Krimis im Fernsehen gesehen.
Sie fand Nicholas in der Versandabteilung, in die er sich mittlerweile hochgearbeitet hatte. Vorher hatte er ein halbes Jahr lang Spülkästen, Kloschüsseln und Waschbecken in ihrem tönernen Rohzustand mit Glasur überzogen und sie dann in den riesigen Brennofen geschoben. In der Halle mit dem Brennofen herrschten unerträgliche Hitze und ohrenbetäubender Lärm, aber Nicholas hatte die Etappe erfolgreich durchlaufen. Eigentlich hatte er sich in allen Abteilungen der Firma bewährt, in denen er in den vergangenen zwei Jahren gearbeitet hatte.
Manette wusste, dass er sich vorgenommen hatte, sich in der Firma von der Pike auf hochzuarbeiten. Sie konnte nicht umhin, ihn dafür zu bewundern, auch wenn die Gründe für seine Entscheidung sie ein bisschen beunruhigten. Er nahm doch nicht etwa an, dass ein paar Jahre des Herumwerkelns bei Fairclough Industries mehr zählten als die Jahrzehnte, die sie und Freddie schon in der Firma arbeiteten? Er rechnete doch wohl nicht damit, zum Geschäftsführer ernannt zu werden, wenn sein Vater eines Tages abtrat? Der Gedanke war einfach lächerlich.
Nicholas war gerade dabei, eine Sendung Waschbecken zu überprüfen. Weil das große Tor an der Rampe offen stand, war es kalt in der Halle. Und es war laut, da aus riesigen Lautsprechern Musik von Santana dröhnte, als könnte das den Anwesenden einheizen.
Manette ging auf ihren Bruder zu. Er blickte auf und nickte zum Gruß. Sie musste gegen die Musik anbrüllen, um ihn zu fragen, ob sie kurz reden könnten.»Es dauert noch eine Weile, bis ich Pause habe«, antwortete er.
«Herrgott noch mal, Nick«, schrie sie verärgert.»Du wirst schon nicht gleich gefeuert, wenn du deine Arbeit mal fünf Minuten lang unterbrichst.«
«Ich muss erst die Ladung hier abfertigen. Er wartet darauf. «Mit er war der Lastwagenfahrer gemeint, der herumstand und rauchte und nicht gerade den Eindruck machte, als hätte er es furchtbar eilig loszufahren.
«Ich muss mit dir reden«, insistierte sie.»Es ist wichtig. Frag um Erlaubnis, wenn du es für nötig hältst. Oder soll ich das für dich tun?«
Der Vorgesetzte ihres Bruders kam sowieso gerade an. Er schob sich den Hut in den Nacken, grüßte sie mit» Tag, Mrs. McGhie«, was ihr einen Stich versetzte, obwohl sie ja tatsächlich so hieß. Sie sagte:»Kann ich kurz mit Nicholas reden, Mr. Perkins? Es ist ziemlich wichtig. Eine Familienangelegenheit. «Letzteres fügte sie hinzu, um den Mann daran zu erinnern — als wäre das nötig —, wer Nicholas war.