George sagte etwas ins offene Fenster und langte hinein. Tim dachte, er würde Dan eine ordentliche Kopfnuss verpassen, aber stattdessen zauste er ihm das Haar und lachte, und Dan lachte auch. Er ließ den Motor wieder an. Sie gingen das Ganze noch mal von vorne durch. Diesmal blieb George stehen und rief Dan aufmunternd etwas zu. Dan schaffte tatsächlich eine Runde um den Platz, und George stieß triumphierend eine Faust in die Luft.
Tim wandte sich vom Fenster ab. Vollidioten, dachte er. Zwei Pfeifen. Wie der Vater, so der Sohn. Dan würde genauso enden wie sein Alter und irgendwo in Schafscheiße rumwaten. Er war ein Versager. Ein verdammter Scheißversager. Er war ein derartiger Versager, dass er zerquetscht gehörte, und das würde Tim am liebsten sofort erledigen. Jetzt gleich. Auf der Stelle. Mit einer Pistole oder einem Messer oder einem Knüppel aus dem Haus rennen und sich auf ihn stürzen, bloß dass er keine einzige Waffe hatte, wo er doch so dringend eine brauchte …
Tim rannte aus seinem Zimmer. Er hörte Gracie und Kaveh miteinander reden und ging in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. Sie waren in Kavehs Arbeitszimmer im obersten Stock. Der Blödmann saß am Zeichentisch und arbeitete an irgendwas, und Gracie, diese dumme Göre, hockte auf dem Boden und spielte mit ihrer Puppe, wiegte sie in den Armen und redete tatsächlich mit ihr wie mit einem echten Baby, so was Bescheuertes. Es wurde wirklich Zeit, dass er seiner Schwester mal Verstand einbläute …
Gracie kreischte wie am Spieß, als er ihr die Puppe aus den Armen riss.»Verdammte, dämliche Pute!«, schrie er, schlug die Puppe gegen den Zeichentisch, riss ihr Arme und Beine aus und schleuderte sie zu Boden.»Werd endlich erwachsen, du arme Irre!«, schrie er und stürmte aus dem Zimmer.
Er rannte die Treppe runter und aus dem Haus, und hinter sich hörte er Gracie weinen, was ihm eigentlich Genugtuung hätte bereiten müssen, aber das tat es nicht. Dann hörte er Kaveh nach ihm rufen, hörte, wie Kaveh hinter ihm hergerannt kam, ausgerechnet Kaveh, der an allem schuld war.
George und Daniel Cowley standen neben dem Land Rover, und Tim ging extra so dicht an ihnen vorbei, dass er diesen Blindgänger von Daniel aus dem Weg schubsen konnte.»Was fällt dir ein?«, schrie George.
«Fick dich!«, brüllte Tim. Er brauchte etwas, er musste irgendetwas finden, denn es kochte in ihm, sein Blut kochte, und er wusste, wenn er nichts fand, würde sein Kopf explodieren, sein Blut und sein Gehirn würden rausspritzen, was ihm eigentlich egal wäre, doch so wollte er nicht enden. Und die ganze Zeit hörte er Kaveh rufen, er solle stehen bleiben, er solle warten, aber das wäre das Allerletzte, was er tun würde: auf Kaveh Mehran warten.
Er lief um den Pub herum und durch einen Garten bis zum Bach. Ein paar Enten dümpelten auf dem Wasser, und am anderen Ufer watschelten noch ein paar Enten durch das Gras auf der Suche nach Schnecken oder was zum Teufel die Viecher fraßen. Am liebsten hätte er denen allen den Hals umgedreht oder sie mit den Füßen totgetreten, egal, Hauptsache, er spürte irgendwas sterben.
Im nächsten Moment war er auch schon im Wasser. Die Enten flüchteten. Er versuchte, sie zu packen zu kriegen. Von überall her war Geschrei zu hören, und plötzlich merkte er, dass es teilweise aus seinem eigenen Mund kam, und dann wurde er gepackt. Starke Arme umschlangen ihn, und eine Stimme sagte dicht an seinem Ohr:»Nein, tu das nicht. Das willst du doch gar nicht. Es wird alles gut.«
Verdammt, das war diese Schwuchtel, dieser Perverse. Er hatte Tim umklammert und hielt ihn in den Armen, berührte ihn mit seinen Drecksfingern.
«Hau ab!«, schrie Tim. Er wehrte sich, aber Kaveh hielt ihn nur noch fester.
«Tim! Hör auf!«, rief Kaveh.»Du willst das doch gar nicht. Komm hier weg. Schnell.«
Sie rangen im Wasser miteinander, bis es Tim gelang, sich zu befreien, und Kaveh rückwärts ins Wasser fiel. Er landete auf dem Hintern, saß bis zum Bauch im Wasser und hatte Mühe, sich aufzurappeln. Und Tim triumphierte innerlich, denn das war es, was er wollte, dieses Arschloch am Boden sehen. Er wollte es ihm zeigen, ihm beweisen …
«Ich bin kein Arschficker!«, brüllte er.»Rühr mich nie wieder an, kapiert? Such dir einen anderen!«
Kaveh schaute ihn an. Er keuchte, und Tim keuchte auch, und dann änderte sich Kavehs Gesichtsausdruck, doch was sich darin spiegelte, war nicht das, was Tim sehen wollte, nämlich Verletzung, Verzweiflung, Zerstörung.
Kaveh sagte:»Natürlich bist du das nicht, Tim. Hast du das etwa gedacht?«
«Halt die Schnauze!«, schrie Tim und rannte davon.
Manette hatte es geschafft, das Zelt allein aufzubauen. Es war nicht ganz einfach gewesen, und sie hatte sich nicht sonderlich geschickt angestellt, so dass zu befürchten war, dass das Zelt irgendwann über ihr zusammenklappen würde. Trotzdem kroch sie hinein, setzte sich wie ein Buddha in die Öffnung und schaute auf den See hinaus.
Freddie hatte an die Badezimmertür geklopft und gesagt, er müsse mit ihr reden. Sie hatte gefragt, ob er ein paar Minuten warten könne, sie sei gerade dabei … bei irgendetwas eben. Selbstverständlich könne er warten, hatte er hastig geantwortet, als wäre das, was sie gerade im Badezimmer tat, das Letzte, was er wissen wollte, was ja eigentlich auch verständlich war. Manche Dinge waren wirklich zu intim.
Dabei hatte sie gar nichts getan. Sie hatte nur Zeit totgeschlagen. Schon am Vormittag, als sie sich am Kaffeeautomaten begegnet waren, hatte sie gespürt, dass Freddie irgendetwas auf den Nägeln brannte. Sie war aus ihrem Zimmer gekommen, er von draußen. Da er dasselbe anhatte wie am Abend zuvor, wusste sie sofort, dass er die Nacht bei Sarah verbracht hatte. Ein schlaues Luder, diese Sarah, dachte Manette. Hatte sofort erkannt, was für ein Goldstück sie sich da geangelt hatte.
Und als Freddie gesagt hatte, er müsse mit ihr reden, hatte sie mit dem Schlimmsten gerechnet. Dass er glaubte, in Sarah die Richtige gefunden zu haben. Dass er vorhatte, sie am Abend mitzubringen, dass sie bei ihnen einziehen würde. Und Manette hatte sich gefragt, wie sie wohl damit zurechtkommen würde.
Es würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als das Haus zu verkaufen und getrennter Wege zu gehen. Doch das wollte sie nicht, denn sie liebte dieses Haus. Das heißt, sie hing gar nicht so sehr an dem Haus selbst, das zugegebenermaßen ziemlich klein und schäbig war, sondern an diesem speziellen Ort, der schon seit Jahren ihre Zuflucht war. Dass sie ihn womöglich würde verlassen müssen, stimmte sie traurig.
Wahrscheinlich ging es sowieso immer nur um Wurzeln, die man irgendwo geschlagen hatte, und die Angst davor, sie auszureißen, weil nicht alle Pflanzen das überlebten, und Manette wusste nicht, wie es sich anfühlen würde, wenn sie gezwungen wäre, von hier fortzugehen. Von dem Haus und dem alten Ruderboot vorne am Steg, mit dem sie jederzeit auf den See hinausfahren und den Sonnenaufgang genießen oder im Regen sitzen konnte.
Es hatte nichts mit Freddie zu tun, sagte sie sich. Und auch nicht mit Sarah oder irgendeiner anderen Frau, für die Freddie sich irgendwann entschied. Und letztlich war sie es ja gewesen, die die Diskussion darüber entfacht hatte, dass ihnen die Liebe abhandengekommen war.
Manette konnte sich nicht mehr erinnern, wie Freddie sie angesehen hatte, als sie das Thema zum ersten Mal zur Sprache gebracht hatte. Hatte er ihr widersprochen? Sie wusste es nicht mehr. Er war immer so verdammt gefügig. Da hätte es sie nicht wundern sollen, dass er einfach so hingenommen hatte, ihre Ehe sei mausetot. Damals war sie erleichtert darüber gewesen. Aber jetzt wusste sie überhaupt nicht mehr, warum in aller Welt sie damals so erleichtert gewesen war. Was hatte sie denn von einer Ehe erwartet? Drama und Leidenschaft und wilden Sex jede Nacht? Wie sollte man so etwas durchhalten? Und wer wollte das denn überhaupt?