Er zeigte auf eine imposante weiße Stadtvilla. Die vielen Klingelschilder neben dem Eingang ließen erkennen, dass das Haus in Eigentumswohnungen umgewandelt worden war. Barbara stieg aus und bezahlte den Fahrer, der ihr noch mit einem Augenzwinkern erzählte, dass das Paar jedes Mal hier ausgestiegen sei und dass offenbar beide einen Hausschlüssel besaßen, wie er beobachtet hatte.
Nachdem das Taxi weggefahren war, überlegte Barbara, wie sie weiter vorgehen sollte.
Wohnungen bedeutete, dass sie den Namen des entsprechenden Eigentümers erst in Erfahrung bringen musste. Sie zündete sich eine Zigarette an und ging vor dem Haus auf und ab. Das Nikotin, sagte sie sich, würde sie auf Ideen bringen. Eine Zigarettenlänge reichte aus.
Sie trat an die Haustür und betrachtete die Klingelschilder, auf denen, wie es typisch war für London, keine Namen, sondern Nummern standen. Aber an einer Klingel stand Portier, ein richtiger Glücksfall, denn nicht in vielen Wohnhäusern gab es einen Portier. Es war ein Service, der die Wohnungen in dem Gebäude aufwertete, jedoch auch eine Stange Geld kostete.
Eine männliche Stimme erkundigte sich nach ihrem Begehr. Sie erklärte dem Portier, sie wolle sich nach einer Wohnung erkundigen, von der sie gehört habe, dass sie demnächst verkauft werde. Ob er kurz Zeit habe?
Der Mann wirkte nicht gerade begeistert, ließ sich jedoch erweichen. Er betätigte den Türöffner und sagte ihr, sein Büro liege im hinteren Teil des Gebäudes, am Ende des Flurs.
Es war vollkommen still im Haus, abgesehen von den gedämpften Verkehrsgeräuschen von der Kensington Road, die am Ende der Straße Rutland Gate querte. Lautlos ging sie über den verschossenen türkischen Läufer, der auf dem Marmorboden lag. In der Eingangshalle lagen sich die Türen zu zwei Wohnungen gegenüber, und unter einem großen Spiegel mit vergoldetem Rahmen stand ein Tisch mit Sortierfächern für die Post. Sie warf einen kurzen Blick auf die Fächer, aber ebenso wie die Klingelschilder waren sie lediglich mit Nummern versehen.
Hinter dem Treppenhaus und dem Aufzug fand sie schließlich eine Tür mit der Aufschrift Portier. Barbara klopfte. Der Mann, der ihr öffnete, sah aus wie ein Rentner, und er trug eine Uniform, die ihm am Hals zu eng und am Bauch zu weit war. Er musterte Barbara von oben bis unten und bedachte sie dann mit einem Blick, der besagte, falls sie die Absicht hatte, in diesem Gebäude eine Wohnung zu kaufen, dann solle sie sich auf eine Verhandlungsbasis gefasst machen, die sie aus ihren roten Sportschuhen hauen würde.
«Ich weiß nichts von einer Wohnung, die verkauft werden soll«, sagte er ohne Umschweife.
«Es handelt sich um eine Art Präventivschlag, wenn Sie verstehen, was ich meine. Darf ich …?«Sie zeigte auf sein Büro und schenkte ihm ein liebenswürdiges Lächeln.»Ich werde Sie nicht lange aufhalten.«
Er trat von der Tür zurück und neigte den Kopf in Richtung seines Schreibtischs in einer Ecke des Zimmers. Er hatte es sich hier richtig gemütlich gemacht, dachte Barbara, halb Büro, halb Wohnzimmer komplett mit Fernseher. Gerade lief ein alter Film, in dem Sandra Dee und Troy Donahue sich als Jugendliche in den Armen lagen, eine verbotene Liebe, untermalt von der berühmten Filmmusik. Es dauerte einen Moment, bis ihr der Titel des Films einfiel. Summer Place, genau. Herzschmerz und Verzweiflung. Was gab es Schöneres? Gebt mir die Kugel, dachte Barbara.
Der Portier folgte ihrem Blick und schaltete den Fernseher hastig aus, vielleicht, weil er das Gefühl hatte, dass der Film zu viel über ihn aussagte. Dann setzte er sich hinter seinen Schreibtisch. Barbara musste stehen, aber das hatte er wohl beabsichtigt.
Barbara bedankte sich, wie sie fand, angemessen für die Bereitschaft des Portiers, mit ihr zu reden. Sie stellte ein paar Fragen zum Gebäude, Fragen, die einem potentiellen Käufer in den Sinn kommen würden, bevor er sein sauer verdientes Geld für eine hoffnungslos überteuerte Immobilie in Kensington ausgab. Baujahr, Gesamtzustand, Probleme mit Heizung, Wasserleitungen, Lüftung, Probleme zwischen den Bewohnern, unerwünschte Personen im Haus, das Viertel selbst, Lärmbelästigung, Angebot an Kneipen, Restaurants, Märkten, kleinen Läden und so weiter und so fort. Nachdem sie alles abgefragt hatte, was ihr einfiel, und sich seine Antworten in ihrem kleinen Notizbuch mit Spiralbindung aufgeschrieben hatte, warf sie ihren Köder aus:»Großartig. Vielen herzlichen Dank. Das stimmt fast alles mit dem überein, was Bernard mir erzählt hat.«
Er biss an.»Bernard? Ist das Ihr Immobilienmakler? Wie gesagt, ich weiß nichts von einer Wohnung, die verkauft wird.«
«Nein, nein, Bernard Fairclough. Er hat mir erzählt, eine Bekannte von ihm wohnt hier, und die hat ihm gesagt … Mir fällt nicht mehr ein, wie sie hieß …«
«Das muss Vivienne Tully sein«, sagte er.»Sie wohnt in Nummer sechs. Aber ich glaube nicht, dass sie ihre Wohnung verkauft. Die ist doch viel zu praktisch für sie.«
«Ah, ja«, sagte Barbara.»Nicht Viviennes Wohnung. Ich dachte erst, es würde ihre sein, und war schon ganz aufgeregt, aber Bernie …«Ein schlauer Einfall, ihn Bernie zu nennen, dachte sie.»… meinte, sie fühlt sich sehr wohl hier im Haus.«
«Ja, das kann ich bestätigen«, sagte der Portier.»Eine sehr nette Frau, möchte ich meinen. Denkt Weihnachten immer an mich, und das kann ich nicht von allen hier behaupten. «Er schaute kurz zum Fernseher hinüber und schluckte. Barbara sah, dass auf einem Tischchen neben einem Sessel ein Teller mit Bohnen auf Toast wartete. Zweifellos wollte er sich nicht nur seinem Abendessen, sondern auch Sandra, Troy und ihrer verbotenen Liebe widmen. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Leidenschaftliche und verbotene Liebe machten das Leben doch erst interessant …
Lynley trank gerade einen Aperitif mit Valerie und Bernard Fairclough, als Mignon plötzlich vor ihnen stand. Sie saßen in einem Zimmer, das Valerie als Salon bezeichnet hatte, wo ein Kohlefeuer im Kamin brannte und die Kälte vertrieb. Da keiner von ihnen gehört hatte, wie Mignon ins Haus gekommen war, waren sie alle ziemlich überrascht, als die Tür aufflog.
Mignon schob ihren Rollator vor sich her. Es hatte wieder angefangen zu regnen, aber Mignon hatte sich ohne Regenmantel auf den Weg gemacht — und zwar mit voller Absicht, wie Lynley vermutete. Ihre Haare klebten ihr am Kopf, aus ihrem Alice-im-Wunderland-Haarband lief ihr das Wasser über die Stirn in die Augen, und ihre Kleider und Schuhe waren vollkommen durchnässt. Wahrscheinlich hatte sie sich für diesen dramatischen Auftritt eine ganze Weile in den strömenden Regen gestellt. Bei ihrem Anblick sprang ihre Mutter entsetzt auf. Lynley erhob sich höflich.
«Mignon!«, rief Valerie aus.»Warum hast du denn keinen Schirm mitgenommen?«
«Ich kann ja wohl schlecht einen Schirm halten, wenn ich dieses Ding hier benutze«, erwiderte Mignon und verwies auf ihren Rollator.
«Ein Regenmantel hätte auch ausgereicht«, sagte ihr Vater. Lynley fiel auf, dass er nicht aufgestanden war. Anscheinend durchschaute er Mignons Masche.
«Daran hab ich nicht gedacht«, sagte Mignon.
«Komm«, sagte Valerie,»setz dich ans Feuer, Liebes. Ich hole dir ein Handtuch.«
«Lass nur«, entgegnete Mignon.»Ich gehe gleich wieder zurück. Ihr esst doch gleich zu Abend, oder? Da ich für heute nicht eingeladen bin, möchte ich euch nicht unnötig stören.«
«Du brauchst doch keine Einladung«, sagte Valerie.»Du bist hier immer willkommen. Aber da du lieber … wegen …«Es war klar, dass sie in Lynleys Gegenwart nicht mehr sagen wollte.
Mignon dagegen schon.»Ich wurde wegen Adipositas operiert, Thomas. Ich war fett wie eine Kuh. Sie machen sich keine Vorstellung. Das Fett, das ich über zwanzig Jahre mit mir rumgeschleppt habe, hat mir die Knie ruiniert. Die werden als Nächstes ersetzt. Dann bin ich wieder so gut wie neu, und dann kommt bestimmt bald ein netter Mann vorbei und erlöst meine Eltern von meiner Last. Das hoffen sie zumindest.«