Hadiyyah hüpfte unermüdlich plappernd den ganzen Weg bis zum Haus neben ihrem Vater her. Barbara schaute ihnen nach. Seit sie ihn kannte, war Azhar ein ernster Typ gewesen, doch diesmal war er ihr noch bedrückter vorgekommen als gewöhnlich. Sie konnte es sich nicht erklären, aber da Angelina zurzeit arbeitslos war, hatte es womöglich damit zu tun, dass er für die Rechnung aus dem Dorchester würde aufkommen müssen. Angelina hatte an nichts gespart und als Erstes Champagner bestellt, um auf Barbaras wundersame Verwandlung anzustoßen.
Nachdenklich machte Barbara die Tür zu. Wenn sie Azhar in eine unangenehme Lage gebracht hatte, dann musste sie unbedingt etwas unternehmen, auch wenn sie nicht so recht wusste, was das sein könnte, außer dass sie ihm ein paar Pfund zusteckte, die er wahrscheinlich sowieso nicht annehmen würde.
Nachdem sie ihr Frühstück beendet hatte, bereitete sie sich mental auf den Tag vor, der sie erwartete. Obwohl sie offiziell heute freihatte, stand ein Besuch bei Scotland Yard auf dem Plan, und das bedeutete, dass sie sich auf einiges an Sticheleien seitens ihrer Kollegen würde gefasst machen müssen, wenn diese ihre neue Frisur erblickten.
Normalerweise hätte sie das Unvermeidliche noch ein bisschen hinausschieben können, aber Lynley brauchte nun mal Informationen, an die sie nirgendwo so gut herankam wie im Yard, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als sich in die Victoria Street zu begeben und sich dort so unauffällig wie möglich zu verhalten.
Sie hatte einen Namen — Vivienne Tully —, aber viel mehr auch nicht. Nach ihrem Gespräch mit dem Portier hatte sie noch ein paar wenige Informationen sammeln können. Ein paar an Vivienne Tully adressierte Briefe in einem der Postfächer in der Eingangshalle hatten ihr bestätigt, dass die junge Frau in Apartment Nr. 6 wohnte, das sich im dritten Stock befand, wie Barbara nach einem kurzen Sprint die Treppe hoch festgestellt hatte. Es handelte sich um die einzige Wohnung auf dieser Etage, aber als Barbara an die Tür geklopft hatte, hatte sie lediglich in Erfahrung gebracht, dass Vivienne Tully eine Putzfrau beschäftigte, die auch die Tür öffnete, falls jemand sich bemerkbar machte, während sie mit Staubsauger und Schrubber hantierte. Die Frage nach Ms. Tullys Aufenthaltsort hatte Barbara nichts weiter eingebracht als die Erkenntnis, dass die Putzfrau so gut wie gar kein Englisch sprach. Dem Akzent nach zu urteilen stammte sie irgendwie aus dem Baltikum, und unter Zuhilfenahme einer Zeitschrift, die auf einem kleinen Tisch lag, und mehrmaligem Zeigen auf eine Standuhr hatte sie eine kleine Pantomime aufgeführt, aus der Barbara geschlossen hatte, dass Vivienne Tully entweder Tänzerin beim Königlichen Ballett war oder mit einer Freundin namens Bianca zu einer Aufführung des Königlichen Balletts oder zum Ballettuntericht gegangen war. Auf jeden Fall war klar: Vivienne Tully war nicht zu Hause und wurde frühestens in zwei Stunden zurückerwartet. Wegen des Frisörtermins hatte Barbara natürlich nicht auf die Dame warten können, und so war Vivienne Tully, als Barbara nach Knightsbridge geeilt war, ein unbeschriebenes Blatt geblieben.
Um das Blatt zu füllen, würde Barbara einen Abstecher in den Yard machen, und wenn sie schon mal dabei war, konnte sie auch gleich nachsehen, was sie über Ian Cresswell, Bernard Fairclough und diese Argentinierin in Erfahrung bringen konnte, die Lynley erwähnt hatte, Alatea Vasquez del Torres. Sie ließ ihren Mini an und fuhr in Richtung Westminster und hoffte inständig, dass sie in den Korridoren von New Scotland Yard möglichst wenigen ihrer Kollegen über den Weg laufen würde.
Anfangs hatte sie, was ihre diesbezüglichen Ängste anging, einigermaßen Glück. Die einzigen Personen, denen sie begegnete, waren Winston Nkata und die Abteilungssekretärin Dorothea Harriman. Dorothea, schon immer der Inbegriff der Eleganz und Expertin in allen Mode- und Kosmetikfragen, blieb in ihren Zwölf-Zentimeter-Stilettos wie angewurzelt stehen und rief aus:»Großartig, Detective Sergeant! Absolut großartig! Wer hat Ihnen denn diese schicke Frisur verpasst?«Sie berührte Barbaras Haare mit ihren schlanken Fingern.»Und dieser Glanz. Traumhaft. Unser Detective Superintendent Ardery wird ganz entzückt sein, warten Sie’s ab.«
Abzuwarten war das Letzte, wonach Barbara der Sinn stand.»Danke, Dee«, sagte sie.»Mal was anderes, was?«
«Anders ist gar kein Ausdruck!«, erwiderte Dorothea.»Sie müssen mir unbedingt den Namen des Frisörs verraten. Würden Sie das tun?«
«Na klar«, sagte Barbara.»Warum denn nicht?«
«Also, manche Frauen würden das nie tun, wissen Sie. Man schützt sich halt vor der Konkurrenz …«Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete das Meisterwerk mit einem Seufzer.»Da werd ich ganz grün vor Neid.«
Darüber, dass Dorothea Harriman sie um ihre Frisur beneiden könnte, hätte Barbara am liebsten schallend gelacht, ebenso wie über die Vorstellung, sie könnte sich mit Hilfe der von oben verordneten Runderneuerung einen Mann angeln. Aber sie beherrschte sich und nannte Dorothea den Namen des Frisörs und die Adresse des Salons in Knightsbridge. Der Salon war garantiert nach Dorotheas Geschmack, dachte Barbara, die vermutete, dass die Sekretärin viel Zeit in Knightsbridge verbrachte und dort einen Großteil ihrer Gehalts ausgab.
Winston Nkatas Reaktion fiel weniger überschwänglich aus, und dafür war Barbara dankbar.»Sieht gut aus, Barb«, sagte er.»Hat die Chefin dich schon gesehen?«
«Ich hatte eigentlich gehofft, ihr aus dem Weg zu gehen. Also, falls du sie siehst, ich bin nicht hier, okay? Ich muss nur mal eben an den Polizeicomputer und ein paar Sachen überprüfen.«
«DI Lynley?«
«Nicht weitersagen!«
Nkata versprach, ihr so gut es ging Deckung zu geben, aber man konnte natürlich nie wissen, wann Isabelle Ardery irgendwo auftauchte.»Am besten legst du dir schon mal irgendeine passende Geschichte zurecht«, riet er Barbara.»Es passt ihr nämlich gar nicht in den Kram, dass der Inspector abgehauen ist, ohne ihr zu verraten, wohin.«
Barbaras Augen wurden schmal. Sie fragte sich, was Nkata über Lynley und Isabelle Ardery wusste. Doch Nkatas Gesichtsausdruck verriet nichts, und obwohl das bei ihm die Regel war, neigte Barbara zu der Annahme, dass seine Bemerkung sich nur auf das Offensichtliche bezog: Lynley gehörte zu Arderys Team, und sie war sauer darüber, dass Hillier ihn für einen Fall abgezogen hatte, der außerhalb ihrer Zuständigkeit lag.
Barbara suchte sich einen unauffälligen Platz, wo sie sich in den Polizeicomputer einloggen konnte. Als Erstes sammelte sie alle verfügbaren Informationen über Vivienne Tully, was ziemlich einfach war. Die Frau war in Wellington, Neuseeland geboren, war in Auckland zur Schule gegangen und hatte auch dort studiert und später an der London School of Economics einen hervorragenden Abschluss gemacht. Sie war Hauptgeschäftsführerin bei Precision Gardening, einer Firma, die Gartenwerkzeug herstellte — kein besonders glamouröser Job, dachte Barbara —, und sie saß im Aufsichtsrat der Fairclough Foundation. Kurz darauf stieß Barbara auf eine weitere Verbindung zu Bernard Fairclough. Mit Anfang zwanzig war Vivienne Tully Bernard Faircloughs Chefsekretärin bei Fairclough Industries in Barrow-in-Furness gewesen. Nachdem sie bei Fairclough Industries aufgehört und bevor sie bei Precision Gardening angefangen hatte, war sie als freiberufliche Wirtschaftsberaterin tätig gewesen, was in der modernen Geschäftswelt, so vermutete Barbara, entweder heißen konnte, dass sie versucht hatte, eine eigene Firma auf die Beine zu stellen, oder dass sie vier Jahre lang arbeitslos gewesen war. Derzeit war sie dreiunddreißig Jahre alt, und auf einem Foto hatte sie modisch struppiges Haar, war eher jungenhaft gekleidet und wirkte außerordentlich intelligent. Ihr Blick besagte, dass sie Schwächlinge unerträglich fand. Und in Anbetracht ihrer Herkunft und ihrer Bildung besagte er, dass sie eine vollkommen unabhängige Frau war.