Über Lord Fairclough konnte Barbara nichts Merkwürdiges entdecken. Umso mehr Merkwürdiges fand sie über seinen missratenen Sohn, denn Nicholas Fairclough war nicht gerade auf dem Pfad der Tugend gewandelt, und in seinem Vorstrafenregister fand sie Autounfälle, Verhaftungen wegen Trunkenheit am Steuer, vereitelte Einbrüche, Ladendiebstähle und Hehlerei. Aber inzwischen führte er anscheinend ein beinahe asketisches Leben. Er hatte alle seine Strafen verbüßt und sich seit dem Tag seiner Hochzeit nichts mehr zuschulden kommen lassen.
Was Barbara zu Alatea Vasquez del Torres brachte, der Frau mit dem komplizierten Namen. Abgesehen von dem Namen hatte Barbara sich in ihrem eselsohrigen Notizheft ihren Herkunftsort notiert, nämlich» Santa María de irgendwas«, was sich als wenig aufschlussreich erwies, denn es gab zahllose Orte in Lateinamerika, die mit Santa María de … anfingen. Das würde kein Zuckerschlecken werden, sagte sie sich.
Sie überlegte gerade, wie sie vorgehen sollte, als Ardery sie entdeckte. Dorothea Harriman hatte bedauerlicherweise ihrer Chefin gegenüber von Barbaras neuer Frisur geschwärmt und dabei nicht daran gedacht, sich eine nette Lüge auszudenken bezüglich der Frage, wo sie Barbara mit ihrer neuen Frisur außerhalb von Scotland Yard gesichtet haben könnte. Und so war Isabelle Ardery in die Bibliothek im zwölften Stock gekommen, wohin Barbara sich zurückgezogen hatte, um heimlich und in Ruhe den Polizeicomputer zu durchforsten.
«Ach, hier stecken Sie. «Ardery hatte sich angeschlichen wie eine Katze, und Barbara hätte schwören können, dass sie vor Genugtuung schnurrte.
«Hallo Chefin«, sagte Barbara und nickte zum Gruß.»Hab immer noch frei«, fügte sie hinzu, für den Fall, dass Isabelle Ardery vorhatte, ihr irgendeinen dienstlichen Auftrag zu erteilen.
Aber Ardery schien nichts dergleichen im Sinn zu haben. Sie sagte:»Als Erstes möchte ich mir Ihre neue Frisur ansehen.«
In Anbetracht des Tons ihrer Chefin wollte Barbara lieber nicht wissen, was als Zweites kommen würde. Sie stand auf, um sich begutachten zu lassen.
Ardery nickte.»Das ist ja tatsächlich ein Haarschnitt«, sagte sie.»Man könnte es sogar als Frisur bezeichnen.«
Bei dem Preis, den sie dafür hingeblättert hatte, sollte man es als Haarpracht bezeichnen, dachte Barbara. Sie wartete.
Ardery ging um sie herum. Nickte.»Die Haare. Die Zähne. Sehr gut. Es freut mich zu sehen, dass Sie Anweisungen befolgen können, wenn man Ihnen Feuer unterm Hintern macht, Sergeant.«
«Stets zu Diensten«, sagte Barbara.
«Was Ihre Kleidung angeht …«
«Ich bin im Urlaub, Chefin«, fiel Barbara ihr ins Wort, um ihre Aufmachung zu erklären: Trainingshose, T-Shirt mit dem Aufdruck Finish Your Beer … Children in China are Sober, rote, knöchelhohe Turnschuhe und Donkeyjacke.
«Auch im Urlaub repräsentieren Sie Scotland Yard, Barbara«, sagte Ardery.»Sobald Sie dieses Gebäude betreten …«Plötzlich fiel ihr Blick auf Barbaras zerfleddertes Notizheft.»Was machen Sie hier eigentlich?«, wollte sie wissen.
«Ich brauchte nur ein paar Informationen.«
«Dass Sie diese Informationen hier suchen, lässt darauf schließen, dass es sich um eine Polizeiangelegenheit handelt. «Isabelle Ardery kam einen Schritt näher, so dass sie den Bildschirm besser sehen konnte.»Argentinien?«, fragte sie.
«Urlaub«, antwortete Barbara leichthin.
Ardery ergriff die Maus und scrollte erst eine, dann noch eine Seite zurück.»Haben Sie neuerdings ein Faible für die Jungfrau Maria?«, fragte sie, als sie all die Orte sah, die mit Santa María de … anfingen.»Wo soll die Reise denn hingehen? In ein Skigebiet? Ans Meer? In den Dschungel vielleicht?«
«Ach, ich sammle erst mal Ideen«, sagte Barbara.
Isabelle fuhr zu ihr herum.»Verkaufen Sie mich nicht für dumm, Sergeant. Wenn Sie nach Urlaubsangeboten suchen würden, dann brauchten Sie das nicht hier im Yard zu tun. Da Sie aber nun einmal hier an diesem Computer sitzen und da Sie sich ein paar Tage freigenommen haben, nehme ich an, dass Sie für Inspector Lynley Informationen sammeln. Habe ich recht?«
Barbara seufzte.»Ja.«
«Verstehe. «Arderys Augen wurden schmal.»Dann stehen Sie also mit ihm in Kontakt?«
«Na ja … mehr oder weniger.«
«Regelmäßig?«
«Ich weiß nicht, was Sie damit meinen«, sagte Barbara. Sie fragte sich, worauf zum Teufel die Ardery hinauswollte. Schließlich hatte sie nichts mit Lynley. Und falls die Ardery irgendetwas in der Richtung annahm, war sie wirklich nicht ganz bei Trost.
«Wo ist er, Sergeant?«, fragte Isabelle Ardery ganz direkt.»Sie wissen es, nicht wahr?«
Barbara zögerte. Die Wahrheit war, dass sie es wusste. Die Wahrheit war aber auch, dass Lynley es ihr nicht gesagt hatte. Sie war durch den Namen Bernard Fairclough darauf gekommen. Also antwortete sie:»Er hat es mir nicht gesagt, Chefin.«
Aber Ardery hatte bereits ihre eigenen Schlüsse gezogen. Sie sagte:»Verstehe«, und das in einem Ton, der Barbara sagte, dass sie sich etwas anderes zusammenreimte als die Wahrheit.»Danke Sergeant«, fügte Ardery hinzu.»Vielen Dank.«
Dann ging sie. Barbara hätte hinter ihr herrufen können, ehe sie die Tür der Bibliothek erreichte. Sie hätte alles klarstellen können. Doch sie entschied sich dagegen. Und sie fragte sich auch nicht, warum sie ihre Chefin etwas glauben ließ, was absolut nicht stimmte.
Sie machte sich wieder an die Arbeit. Alatea Vasquez del Torres, dachte sie. Ihre Identität galt es zu ermitteln. Das war im Moment das Problem, und nicht Isabelle Ardery.
St. James musste der Tatsache ins Auge sehen, dass seine Frau schlicht und einfach Angst hatte. Angst, dass er sie beide in eine Zukunft katapultieren wollte, die zu viele Unwägbarkeiten mit sich brachte. Widerstrebend hatte er zugeben müssen, dass sie nicht ganz unrecht hatte. Bei einer offenen Adoption nahmen sie nicht nur ein Kind in ihr Leben auf, sondern auch eine leibliche Mutter, einen leiblichen Vater, leibliche Großeltern auf beiden Seiten, und der Himmel wusste, wen sonst noch alles. Es war nicht einfach damit getan, dass man von einer Sozialarbeiterin einen Säugling entgegennahm. Klar hoffte man, dass das Kind später einmal nicht das Bedürfnis entwickelte, seine leibliche Familie ausfindig zu machen, und sich von einem abwandte. In dieser Hinsicht hatte Deborah vollkommen recht. Aber er hatte ebenfalls recht: Egal, auf welche Weise man zu Eltern wurde, eine Erfolgsgarantie gab es nie.
Sein Bruder drängte ihn, endlich eine Entscheidung zu treffen. Dieses junge Mädchen in Southampton könne nicht ewig warten, hatte David gesagt. Es gab noch mehr interessierte Paare.»Komm schon, Simon. Ja oder nein. Das passt doch überhaupt nicht zu dir, dich vor einer Entscheidung zu drücken.«
Also hatte St. James noch einmal mit Deborah gesprochen. Und auch diesmal war sie unnachgiebig geblieben. Eine Viertelstunde lange hatten sie über alle Aspekte diskutiert, dann war er zu einem Spaziergang aufgebrochen. Sie waren nicht im Streit auseinandergegangen, doch nach der hitzigen Auseinandersetzung mussten sie sich beide erst einmal beruhigen.
Vom Crow & Eagle aus ging er in Richtung Arnside, auf der Straße, die am Fluss Bela entlang und schließlich am Watt von Milnthorpe Sands vorbeiführte. Er versuchte, an nichts zu denken, sondern nur die regenfeuchte Luft einzuatmen. Er musste sich das Thema Adoption endgültig aus dem Kopf schlagen. Wenn er es nicht tat — und wenn Deborah es nicht tat —, würde es ihre Ehe vergiften.
Diese verdammte Zeitschrift hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Barbara hatte ihnen die gewünschte Ausgabe geschickt, und Deborah hatte sie von vorne bis hinten gelesen. Ein bestimmter Artikel hatte sie von der Leihmuttermethode überzeugt: sein Sperma, ihr Ei, eine Petrischale und eine Leihmutter eben. Sie hatte einen Bericht über eine Frau gelesen, die aus lauter Altruismus gegenüber anderen Frauen sechs fremde Kinder ausgetragen hatte.»Es wäre unser Kind«, hatte sie immer wieder gesagt.»Deins und meins. «Ja und nein, dachte er. Auch diese Möglichkeit barg Gefahren.