«Sind Sie …«
«Scheren Sie sich zum Teufel!«Er machte einen Schritt zurück, dann drehte er sich auf dem Absatz um und ließ sie stehen.
Deborah stand da wie erstarrt. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und das Blut rauschte ihr in den Ohren. Für diesen Auftritt gab es nur eine Erklärung. Aus unerfindlichen Gründen hielt Nicholas Fairclough sie für den Scotland-Yard-Detective, der nach Cumbria gekommen war, um den Tod seines Vetters zu untersuchen.
Es gab nur eine Möglichkeit, wie er zu diesem Schluss gelangt sein konnte, und die hatte sie mit ihrer Digitalkamera festgehalten.
Kurz nach seiner flüchtigen Begegnung mit Nicholas Fairclough auf dem Marktplatz am Tag zuvor hatte Zed Benjamin sich hinter einem der vielen Stände verdrückt, so dass er von dem Café aus, wo Nicholas Fairclough sich mit der Frau von Scotland Yard getroffen hatte, nicht zu sehen war. Nachdem Fairclough das Café verlassen hatte, brauchte er nicht lange zu warten, bis auch die Frau herauskam, und es war ein Kinderspiel gewesen, ihr zum Crow & Eagle zu folgen. Am nächsten Morgen hatte Zed in aller Frühe in der Filiale der NatWest Posten bezogen und stundenlang hinter dem Geldautomaten gestanden, das Hotel beobachtet und darauf gewartet, dass die Frau herauskam. Die Aktion hatte ihm reichlich misstrauische Blicke von Bankkunden und ungehaltene Worte von Leuten beschert, die den Geldautomaten benutzen wollten. Eine alte Frau hatte ihn ziemlich unsanft weggeschubst und gezetert:»Weg da, du Mistkerl, sonst ruf ich die Polizei … Deine Sorte kenn ich!«Die Lage war also brenzlig geworden, und er hatte nur noch hoffen können, dass die Frau von Scotland Yard sich bald blicken ließ, wenn er nicht wegen verdächtigen Herumlungerns verhaftet werden wollte.
Am Morgen hatte er wie immer mit Yaffa telefoniert, und das Gespräch ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte seine Kussgeräusche nicht erwidert, weil seine Mutter nicht in der Nähe gewesen war und die Notwendigkeit, ihr das verliebte Paar vorzuspielen, sich erübrigt hatte. Außerdem gab es anscheinend neuerdings Probleme mit Micah in Tel Aviv, der es leid war, Yaffas Bruder Ari zu spielen. In einem Gespräch mit Micah hatte Yaffa Zed als attraktiv bezeichnet. Micah habe nicht besonders erfreut reagiert, trotz all ihrer Beteuerungen, dass es nichts zu bedeuten habe. Und während Zed noch darüber nachdachte, dass sie im Zusammenhang mit ihm das Wort attraktiv benutzt hatte, hatte sie ihm erklärt, sie müsse sich wahrscheinlich ein anderes Zimmer suchen, denn Micah sei total aus dem Häuschen. Sie fürchte, hatte sie Zed erklärt, dass Micah vor lauter Sorge, dass sie ihn nicht mehr liebte, sein Studium vernachlässigen könnte. Und das könne sich ein Medizinstudent nun wirklich nicht leisten. Aber er wisse ja sicherlich, was Eifersucht mit Männern mache …
In Wirklichkeit hatte Zed keine Ahnung, was Eifersucht mit Männern machte, denn bisher hatte er sich noch nie auf eine Beziehung mit einer Frau eingelassen.
Yaffa hatte ihm erklärt, sie glaube, sie könne ihren Verlobten noch eine Zeitlang beschwichtigen, allerdings nicht mehr lange. Dann würde sie entweder umziehen oder nach Tel Aviv zurückkehren müssen.
Zed hatte nicht gewusst, was er dazu sagen sollte. Er konnte sie kaum anflehen, noch zu bleiben. Ja, er wusste nicht einmal, wie er überhaupt auf die Idee kam, sie anzuflehen, damit sie blieb. Und doch hatte ihm am Ende des Gesprächs genau das auf der Zunge gelegen und nicht etwa ein gutgelauntes Gute Reise! Und das hatte ihn doch sehr gewundert.
Aber sie hatte sowieso aufgelegt, ehe er dazu gekommen war, das eine oder das andere auszusprechen. Am liebsten hätte er noch einmal angerufen, um ihr zu sagen, dass sie ihm schrecklich fehlen würde, damit sie seine Sprachlosigkeit nicht dahingehend interpretierte, dass es ihm egal wäre, wenn sie nach Israel zurückkehrte. Die Telefongespräche mit ihr gefielen ihm so sehr, dass er ihnen regelrecht entgegenfieberte, ja, er hatte das Gefühl, dass sie genau die Frau war, die … Nein, so weit durfte er nicht denken. Was für eine Schande, dachte er. Er würde sich damit abfinden müssen, dass sie wie Romeo und Julia waren, und fertig.
Zed war so vertieft in seine Gedanken an Yaffa und Micah und die Ironie des Schicksals, das ihn über die perfekte Frau stolpern ließ, die nur dummerweise mit einem anderen verlobt war, dass er, als Nick Fairclough das Hotel Crow & Eagle betrat, nicht sofort begriff, was für eine wichtige Beobachtung er da gerade machte. Er dachte lediglich, ach, da kommt ja Nick Fairclough, schob sich die Mütze ein bisschen tiefer ins Gesicht und zog die Schultern ein, um weniger aufzufallen. Erst als Nick Fairclough kurz darauf wieder aus dem Hotel stürmte, noch dazu mit versteinerter Miene, zählte Zed zwei und zwei zusammen, und das ergab: Fairclough plus Scotland-Yard-Detective gleich wichtiges Ereignis.
Dann kam die Polizistin aus dem Hotel. Sie telefonierte auf ihrem Handy. Eine Polizistin, die auf ihrem Handy telefonierte, bedeutete, dass neue Entwicklungen stattfanden. Fairclough war gegangen, und die Polizistin folgte ihm. Zed musste den beiden folgen.
Sein Auto stand ganz in der Nähe, und er rannte los, als die rothaarige Frau um das Hotel herumging, zweifellos zu ihrem Auto. Er ließ den Motor an und wartete darauf, dass sie auftauchte. Sie würde nirgendwo hinfahren, ohne dass er ihr auf den Fersen blieb.
Er zählte die Sekunden. Aus den Sekunden wurden Minuten. Was war passiert? Hatte sie Probleme mit dem Auto? Einen Platten? Wo zum Teufel steckte sie …?
Schließlich fuhr ein Wagen vom hinter dem Hotel gelegenen Parkplatz, aber es war kein Mietwagen, und die Frau saß nicht am Steuer. Es war ein kupferfarbener, sündhaft teurer Oldtimer, und am Steuer saß ein Typ, der vollkommen entspannt wirkte, um nicht zu sagen gutbetucht, denn wie sonst hätte er sich einen solchen Schlitten leisten können? Ein Hotelgast, schloss Zed scharfsinnig. Der Typ fuhr in Richtung Norden.
Etwa drei Minuten später fuhr wieder ein Auto vom Hotelparkplatz, und Zed legte den ersten Gang ein. Aber auch diesmal saß ein Mann am Steuer, ein Typ mit grimmiger Miene und schwarzem Haar, der sich den Kopf rieb, als versuchte er, eine Migräne loszuwerden.
Dann endlich sah er die Frau. Aber sie kam zu Fuß. Diesmal sprach sie nicht in ihr Handy, und sie wirkte ernst und entschlossen. Zuerst dachte Zed, sie wollte zum Marktplatz, wo es reichlich Cafés gab, in denen man sich mit jemandem treffen konnte. Aber stattdessen ging sie zurück ins Hotel.
Zed traf seine Entscheidung im Bruchteil einer Sekunde. Er schaltete den Motor aus und rannte hinter ihr her. Er konnte sie bis ans Ende der Welt verfolgen, sagte er sich, oder aber er konnte den Stier jetzt bei den Hörnern packen und ein Tänzchen mit ihm wagen.
Entschlossen betrat er das Hotel.
Deborah war so wütend auf Simon, dass sie das Gefühl hatte, sie könnte gleich platzen.
Als sie mit der Kamera in der Hand auf den Parkplatz gekommen war, hatte sie Simon im Gespräch mit Tommy angetroffen. Dass Tommy da war, hatte sie als großen Glücksfall empfunden, denn der würde auf ihrer Seite stehen, und sie brauchte unbedingt einen Verbündeten.
Sie hatte den beiden ganz kurz geschildert, was vorgefallen war: dass Nicholas Fairclough ihr im Hotel aufgelauert hatte, dass er über die Anwesenheit eines Detectives von Scotland Yard informiert war, der Ian Cresswells Tod untersuchte, dass er ausgerechnet sie, Deborah, für den Detective hielt, der in seinem Leben herumschnüffelte.»Es gibt nur eine Möglichkeit, wie er auf die Idee gekommen sein kann«, sagte sie und hielt den beiden Männern das Foto unter die Nase, das sie am Tag zuvor geschossen hatte: Es zeigte einen großen, rothaarigen Mann, der sich auf dem Marktplatz mit Nicholas Fairclough unterhielt.
«Danach«, sagte sie,»wollte Nicholas plötzlich nichts mehr mit mir zu tun haben. Wir hatten vor, nach Barrow zu fahren, aber auf einmal war er dazu nicht mehr bereit. Und jetzt eben war er völlig außer sich … Es ist doch klar, was das bedeutet, oder?«