«Es reicht«, fiel Simon ihr ins Wort.»Ich meine es ernst. Es reicht.«
Sein väterlich strenger Ton traf sie wie ein elektrischer Schlag. Sie sah ihn entgeistert an.»Was hast du gerade zu mir gesagt?«
«Man braucht nicht Freud zu sein, um zu verstehen, wo das alles herkommt, Deborah.«
Blanke Wut überkam sie. Sie öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, doch er kam ihr zuvor.
«Das sind doch Hirngespinste. Es wird Zeit, dass wir nach London zurückkehren. «Er wandte sich an Lynley.»Ich habe getan, was ich konnte, und wenn wir das Bootshaus nicht noch einmal unter die Lupe nehmen wollen, würde ich sagen, dass Ian Cresswells Tod genau das war, als was er bisher erschienen ist.«
Dass er sie so abservieren würde … Zum ersten Mal in ihrem Leben hätte Deborah ihrem Mann am liebsten eine gescheuert. Zügle dich, Deborah, zügle dich, hätte ihr Vater gesagt, doch ihr Vater war auch noch nie so wenig ernst genommen worden von dem Mann, der vor ihr stand. Gott, er war unerträglich, dachte sie. Total aufgeblasen. Und dermaßen selbstgerecht. Er war immer so selbstsicher, so von sich überzeugt, kehrte immer den verdammten Wissenschaftler heraus, dabei hatten manche Dinge weder etwas mit Wissenschaft zu tun noch mit Forensik, Mikroskopen, Blutflecken, Computeranalysen, Diagrammen, Kurven, dieser verblüffenden Maschinerie, mit der man von einem einzelnen Wollfaden auf den Hersteller und das Schaf und die Farm auf den Hebriden schließen konnte, auf der das Schaf geboren war. Sie hätte laut schreien können. Ihm die Augen auskratzen, ihn …
«Sie hat nicht ganz unrecht, Simon«, sagte Tommy.
Simon schaute seinen alten Freund an, als hätte der den Verstand verloren.
«Ich bezweifle nicht, dass es zwischen Nicholas und seinem Vetter böses Blut gegeben hat«, sagte Lynley.»Und mit Bernard stimmt auch irgendetwas nicht.«
«Einverstanden«, sagte Simon.»Aber die Vorstellung, dass Ian Cresswells Witwe …«Mit einer Handbewegung wischte er die Implikation weg.
Dann sagte Tommy:»Aber wenn das, was du sagst, stimmt, Deb, dann ist es zu gefährlich.«
«Aber …«
«Du hast gute Arbeit geleistet, Simon hat allerdings recht. Ihr solltet nach London zurückfahren. Ab jetzt übernehme ich. Ich kann nicht zulassen, dass du dich in Gefahr begibst. Das weißt du.«
Er meinte viel mehr als das, und das wussten sie alle drei. Sie und Tommy waren einmal ein Paar gewesen, und selbst wenn nicht, würde er niemals zulassen, dass sie sich auch nur in die Nähe einer Gefahr begab, die dazu führen konnte, dass Simon sie verlor, so wie Tommy seine Frau verloren hatte.
«Es ist nicht gefährlich«, sagte sie tonlos.»Das weißt du genau, Tommy.«
«Wenn es um Mord geht, ist immer Gefahr im Spiel.«
Nach diesen Worten hatte er sich umgedreht und sie mit Simon allein auf dem Parkplatz stehen gelassen.
«Es tut mir leid, Deborah«, hatte Simon gesagt.»Ich weiß, dass du nur helfen willst.«
«Ach ja, weißt du das?«, hatte sie verbittert geantwortet.»Tu doch nicht so, als wolltest du mich nicht bestrafen.«
«Bestrafen? Für was denn?«Er tat tatsächlich so, als wäre er überrascht.
«Weil ich David abgesagt habe. Weil ich unser kleines Problem nicht mit dem Wörtchen Ja gelöst habe. Das wolltest du doch, eine schnelle Lösung. Ohne auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, wie es mir damit gehen würde, wenn mich in Zukunft sämtliche leiblichen Angehörigen unseres Kindes andauernd beobachten würden, um zu sehen, was für eine Mummy ich bin …«Vor lauter Wut standen ihr die Tränen in den Augen.
«Das hat nichts mit deinem Anruf bei David zu tun«, sagte Simon.»Wenn du dich entschieden hast, dann akzeptiere ich das. Was soll ich sonst tun? Ich hätte mir vielleicht etwas anderes gewünscht, aber …«
«Und nur das zählt. Es ist das, was immer zählt. Deine Wünsche. Nicht meine. Denn wenn ich mich mit meinen Wünschen durchsetzen würde, dann würde das Machtverhältnis sich umkehren, und das wollen wir doch nicht, oder?«
Er wollte sie in den Arm nehmen, aber sie wich vor ihm zurück.»Geh und tu deine Arbeit«, sagte sie.»Wir haben schon genug gesagt.«
Er wartete einen Moment ab. Er schaute sie an, aber sie konnte seinen Blick nicht erwidern. Sie hätte es nicht ertragen, den Schmerz in seinen Augen zu sehen und zu wissen, wie weit dieser Schmerz in die Vergangenheit zurückreichte.
Schließlich sagte er:»Wir reden später weiter. «Dann ging er zu seinem Wagen. Einen Augenblick später war er fort, irgendwohin gefahren, wo er etwas zu tun hatte. Was auch immer das sein mochte. Es interessierte Deborah nicht im Geringsten.
Sie riss sich aus ihren Gedanken und ging um das Hotel herum. Kaum hatte sie die Eingangshalle betreten, hörte sie jemanden hinter sich rufen:»Moment, warten Sie! Wir beide müssen miteinander reden!«Als sie sich umdrehte, kam ausgerechnet der rothaarige Hüne durch die Tür. Ehe sie dazu kam, etwas zu erwidern, fuhr er fort:»Ihre Tarnung ist aufgeflogen. Das kann morgen auf der Titelseite der Source erscheinen, oder wir können einen Deal aushandeln. Sie haben die Wahl.«
«Was für ein Deal?«, fragte Deborah.
«Die Art Deal, die dafür sorgt, dass wir beide bekommen, was wir wollen.«
Simon hatte recht, dachte Lynley: Deborah durfte sich nicht länger an den Ermittlungen beteiligen. Sie wussten nicht, womit sie es zu tun hatten, und alles, was Deborah in Gefahr brachte, war inakzeptabel.
Er hätte die beiden nie um ihre Hilfe bitten dürfen. Aber anfangs hatte es ausgesehen wie ein ziemlich einfacher Fall, der mit ihrer Hilfe in ein, zwei Tagen lösbar wäre. Das hatte sich leider als Irrtum erwiesen, und jetzt musste er ein paar Dinge klären, ehe Deborah etwas tat, was sie alle bereuen würden.
Nachdem Lynley sich in Milnthorpe von seinen Freunden verabschiedet hatte, fuhr er erst nach Norden, bog nach einer Weile in Richtung Westen ab und folgte der Straße, die sich zu der Landzunge hinunterwand, an deren Spitze Barrow-in-Furness lag. Aber Barrow war diesmal nicht sein Ziel. Er wollte sich mit Manette Fairclough unter vier Augen unterhalten, und das bedeutete, dass er sich nach Great Urswick begeben musste.
Die Strecke führte ihn durch die hügelige viktorianische Küstenstadt Grange-over-Sands, an der Flussmündung entlang, wo die dort überwinternden Vögel eine lebende Landschaft im Watt bildeten und im ständigen Wettstreit um die Nahrung lagen, die hier im Überfluss zu finden war, da sie durch jede Flut wieder aufgefüllt wurde.
Hinter Grange-over-Sands lag auf der einen Seite der Straße das graue, trügerisch ruhige Meer und auf der anderen grünes Weideland, hier und da unterbrochen von einer Reihe kleiner Ferienhäuser, die in der wärmeren Jahreszeit von Urlaubern bevölkert waren. Das war das südliche Cumbria, nicht das Seenland, das John Ruskin und William Wordsworth so geliebt hatten. Hier lebten Menschen, die hart arbeiteten und von der Hand in den Mund lebten. Seit Generationen wagten sich die Fischer hinaus in die trügerischen Sandbänke der Bucht, früher mit Pferdekarren, heute mit Traktoren, und immer lauerte Lebensgefahr, wenn sie im Treibsand eine falsche Entscheidung trafen. Und wenn die Flut kam, gab es keine Rettung, dann konnte man nur warten, bis ihre Leichen angespült wurden, was manchmal geschah, manchmal aber auch nicht.
In Bardsea bog er von der Küste ins Landesinnere ab. Die Landschaft hier hatte nichts mit den schroffen Felsen und den mit Schiefer übersäten Geröllhalden des Seengebiets gemeinsam. Dieser Teil von Cumbria erinnerte eher an die flache Sumpflandschaft des Nationalparks» The Broads «in Norfolk. Man ließ die Dörfer schnell hinter sich und gelangte dann in eine flache, vom Wind gepeitschte Landschaft, die hauptsächlich aus Weideland bestand.