Das Haus, in dem Manette wohnte, stand an einem kleinen See, auf dem Schwäne dümpelten und dessen Ufer mit Schilf bewachsen waren. Als Lynley zwei Autos in der Einfahrt sah, freute er sich. Manettes Exmann war offenbar ebenfalls zu Hause. Er würde also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können.
Er klingelte. Ein Mann öffnete. Vermutlich Freddie McGhie, dachte Lynley. Gutaussehend, gut gekleidet, dunkles Haar, dunkle Augen. Helen hätte ihn als» geschniegelt und gestriegelt «bezeichnet, was aus ihrem Mund ein Kompliment gewesen wäre, denn er wirkte absolut gepflegt. Obwohl er Freizeitkleidung trug, sah er aus, als wäre er einer Werbeanzeige in der Zeitschrift Country Life entsprungen.
Lynley stellte sich vor.»Ah ja. Bernards Gast aus London. Manette hat mir von Ihnen erzählt. «Er wirkte liebenswürdig, aber in seinen Worten klang auch Verwunderung mit. Schließlich gab es keinen offensichtlichen Grund, warum Bernard Faircloughs Londoner Gast nach Great Urswick kommen und an Freddie McGhies Tür klopfen sollte.
Lynley sagte, er würde gern mit Manette sprechen, falls sie zu Hause sei.
McGhie schaute zur Straße hinüber, als suchte er nach der Antwort auf eine Frage, die Lynley gar nicht gestellt hatte. Dann, als wäre ihm wieder eingefallen, was sich gehört, sagte er:»Äh, ja, natürlich. Sie hatte nur nichts davon erwähnt, dass …«
Dass was? fragte sich Lynley. Er wartete höflich auf eine Erklärung.
«Ach, egal«, sagte McGhie.»Kommen Sie herein, ich rufe sie.«
Er führte Lynley in ein Wohnzimmer, von dem aus man einen schönen Blick auf den Garten und den See hatte. Mitten im Wohnzimmer stand ein Laufband. Es war ein hochmodernes Gerät mit Bildschirm, auf dem sich alle möglichen Werte ablesen ließen, mit Knöpfen und reichlich technischem Schnickschnack. Um Platz für das Gerät sowie eine Gummimatte für Dehnübungen zu schaffen, waren die meisten Möbel an einer Wand zusammengerückt und gestapelt worden.»Äh, sorry«, murmelte McGhie.»Daran hab ich ja gar nicht gedacht. Gehen wir doch lieber in die Küche. Hier entlang bitte.«
Er führte Lynley in die Küche, ging zurück in den Hausflur und rief nach Manette. Als Lynley Freddie die Treppe hochgehen hörte, öffnete sich die Terrassentür, und Manette kam in die Küche. Zum ersten Mal wurde Lynley bewusst, dass sie ihrer Schwester nicht im Geringsten ähnlich sah. Sie war ebenso hochgewachsen und feingliedrig wie ihre Mutter, aber das Haar hatte sie leider von ihrem Vater geerbt. Es war so schütter, dass man ihre Kopfhaut sehen konnte, trotz des Kurzhaarschnitts und der Dauerwelle. Sie trug Sportkleidung und Laufschuhe, woraus Lynley schloss, dass sie diejenige war, die in Anbetracht des unbeständigen Wetters in der Gegend das Laufband im Wohnzimmer benutzte.»Ach Gott!«, rief sie aus, als sie Lynley gewahrte.»Guten Tag. «Dann schaute sie zu der Tür, durch die sie gekommen war, denn sie hörte ihren Exmann nach ihr rufen.
«Bitte, entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte sie und verschwand im Hausflur.»Ich bin hier unten, Freddie!«, rief sie.»Ich war draußen laufen. «Worauf McGhie antwortete:»Was?«, dann konnte Lynley nicht mehr viel verstehen, weil sie sich leise unterhielten. Er hörte ihn sagen» Soll ich …?«und» Kann ich machen«, konnte aber nicht ausmachen, worauf sich das jeweils bezog. Im nächsten Augenblick kamen sie beide in die Küche.»Was für eine nette Überraschung«, sagte Manette mit einem ironischen Unterton zu Lynley.»Hat mein Vater Sie aus irgendeinem Grund vorbeigeschickt?«
«Ich wollte mich mit Ihnen beiden unterhalten«, erwiderte Lynley.
Die beiden tauschten einen kurzen Blick aus. Es war allerhöchste Zeit, dass mit offenen Karten gespielt wurde, dachte Lynley. Mignon hatte sich nicht täuschen lassen, und von den anderen würde auch niemand auf das alberne Spiel hereinfallen.
Er zückte seinen Dienstausweis und reichte ihn Manette. Ihre Augen wurden schmal. Sie gab den Ausweis an McGhie weiter und fragte:»Was hat das zu bedeuten? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Scotland Yard Sie hergeschickt hat, weil die Toiletten in Ihrem Gebäude renoviert werden und Sie unser Toilettenschüsselsortiment testen sollen. Was meinst du, Freddie?«
McGhie war leicht errötet, aber Lynley nahm nicht an, dass das etwas mit der Erwähnung von Toilettenschüsseln zu tun hatte. Er sagte zu seiner Exfrau:»Ich dachte schon …«, und zuckte die Achseln, eine dieser typischen Du-weißt-schon-Gesten, mit denen sich Paare, die sich schon lange kennen, wortlos verständigen.
Manette lachte laut auf.»Danke für das Kompliment, Freddie«, sagte sie.»Aber ich glaube, der Inspector steht auf jüngere Modelle.«
«Red keinen Unsinn. Du bist doch erst zweiundvierzig«, sagte Freddie.
«Frauenjahre sind wie Hundejahre, Freddie. In den Augen eines Mannes gehe ich eher auf die achtzig zu … Was kann ich für Sie tun, Inspector?«
Lynley sagte:»Ihr Vater hat mich gebeten, die Umstände von Ian Cresswells Tod zu untersuchen.«
«So was hatte ich mir schon gedacht«, sagte Manette zu McGhie, dann setzte sie sich an den Küchentisch. Sie nahm eine Banane aus dem Obstkorb, der auf dem Tisch stand, und begann sie zu schälen.»Das wird Mignon aber gar nicht gefallen. «Mit dem Fuß zog sie einen Stuhl unter dem Tisch hervor.»Setzen Sie sich«, sagte sie zu Lynley und bedeutete auch McGhie, sich einen Stuhl zu nehmen.
Zuerst dachte Lynley, mit dieser Geste wolle sie ihm ihre Bereitschaft zur Kooperation signalisieren, doch von diesem Irrtum befreite sie ihn umgehend.»Falls mein Vater annimmt, ich würde mit dem Finger auf irgendjemanden zeigen, dann können Sie ihm ausrichten, dass er schiefgewickelt ist«, sagte sie.»Von uns hat er keine Unterstützung zu erwarten. Ich kann es nicht fassen, dass er es fertigbringt, seiner eigenen Familie so etwas anzutun.«
«Er möchte sich vor allem vergewissern, dass die örtliche Polizei die nötige Sorgfalt hat walten lassen«, sagte Lynley.»Das kommt häufiger vor, als man meinen sollte.«
«Und wie hat man sich das vorzustellen?«, fragte Manette.»Jemand kommt nach London und bittet darum, dass Scotland Yard einen Fall noch einmal aufrollt, der bereits abgeschlossen wurde? Einfach so? Also, ich bitte Sie, Inspector. Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?«
«Was hat Bernard denn auf die Idee gebracht?«, wollte McGhie wissen.»Für den Coroner war der Fall absolut eindeutig.«
«Dad hat seinen Einfluss geltend gemacht«, sagte Manette.»Der Himmel weiß, wie er das hingekriegt hat, aber ich wette, er kennt jemanden, der einen kennt, der bereit ist, ein paar Strippen zu ziehen oder ein hübsches Sümmchen für den Witwen- und Waisenfonds zu spenden. So laufen solche Dinge. Ich vermute, er will wissen, ob Nick etwas mit Ians Tod zu tun hat, egal, was der Coroner gesagt hat. Weiß der Kuckuck, wie Nick das angestellt haben soll, doch bei seiner Vergangenheit ist wahrscheinlich alles denkbar. «Sie schaute Lynley an.»Habe ich recht? Sie sind hier, um zu sehen, ob ich Ihnen helfen kann, meinem Bruder die Daumenschrauben anzulegen.«
«Ganz und gar nicht«, antwortete Lynley.»Ich möchte mir nur ein eindeutiges Bild machen.«
«Was zum Teufel soll das denn heißen?«
«Das soll heißen, dass mancher Todesfall zu einem allzu günstigen Zeitpunkt eintritt. Auf so etwas achtet ein Coroner nicht unbedingt. Zumindest nicht, wenn die Umstände für sich sprechen.«
«Deswegen sind Sie also hier? Sie wollen feststellen, wie günstig der Zeitpunkt von Ians Tod war? Und wem Ians Tod nützlich war? Mir jedenfalls hat sein Tod nichts genützt, das kann ich Ihnen gleich sagen. Dir, Freddie? Hat dir Ians Tod genützt?«
«Manette, wenn Scotland Yard …«
«Verdammt!«, fiel sie ihm ins Wort.»Wenn Scotland Yard den Fall untersucht, dann hat mein Vater wahrscheinlich einiges springen lassen. Die Mittel für einen neuen Büroflügel, was weiß ich. Du bist doch gerade dabei, die Bücher durchzusehen, Freddie. Du findest es bestimmt raus, wenn du lange genug suchst. Irgendeine Zahlungsanweisung, für die es keine Erklärung gibt. Eine größere als die anderen, für die es keine Erklärung gibt.«