«Vivienne Tully ist Vergangenheit«, sagte er schließlich.»Sie ist schon lange fort.«
Er warf seine Angel sehr vorsichtig aus. Aber in diesem trüben Gewässer konnte sie ebenso gut fischen.»Die Vergangenheit ist nie so weit weg, wie wir es gerne hätten. Irgendwie holt sie uns immer wieder ein. So wie Vivienne zu dir zurückgekommen ist.«
«Ich weiß nicht, was du meinst.«
«Ich meine, dass Ian ihr seit Jahren Geld überwiesen hat. Und zwar monatlich. Doch das wirst du ja wissen.«
Er runzelte die Stirn.»Nein, davon weiß ich nichts.«
Manette versuchte, in ihn hineinzusehen. Auf seinem Gesicht schimmerte ein feiner Schweißfilm, und sie hätte sich gewünscht, dass das etwas über ihn verriet und über das, was er möglicherweise getan hatte. Sie sagte:»Ich glaube dir nicht. Zwischen dir und Vivienne Tully ist immer irgendwas gewesen.«
«Vivienne gehörte zu etwas in meiner Vergangenheit, das ich zugelassen habe.«
«Was soll das denn heißen?«
«Dass es einen Moment gegeben hat, in dem ich menschlich versagt habe.«
«Verstehe«, sagte Manette.
«Nicht alles«, entgegnete ihr Vater.»Ich habe Vivienne begehrt, und sie hat meine Gefühle erwidert. Aber keiner von uns beiden hatte je die Absicht …«
«Ach, das behaupten doch alle. «Manette wunderte sich über ihre eigene Verbitterung. Schließlich hatte ihr Vater nur zugegeben, was sie schon seit Jahren vermutete: dass er eine Affäre mit einer jungen Frau gehabt hatte. Was ging das sie an, seine Tochter? Es bedeutete nichts und war zugleich immens wichtig, und das Schlimme war, dass Manette nicht begriff, warum.
«Es war keine Absicht«, sagte Fairclough.»Man gerät in so etwas hinein. Irgendwie hat man das dumme Gefühl, dass das Leben einem mehr bieten müsste, und wenn man diesen Gedanken erst einmal zulässt, dann …«
«Du und Vivienne Tully. Ich will dich nicht verletzen, aber ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie hätte mit dir schlafen wollen.«
«Das hat sie nicht.«
«Sie hat nicht mit dir geschlafen? Also wirklich!«
«Nein, das meine ich nicht. «Fairclough schaute zum Haus hinüber, dann wandte er sich ab. Am See entlang verlief ein Weg, der zum Wald hinaufführte.»Komm, wir machen einen Spaziergang«, sagte er.»Ich werde versuchen, es dir zu erklären.«
«Ich will keine Erklärung.«
«Nein. Aber du bist bedrückt. Und das hat teilweise mit mir zu tun. Komm mit, Manette. «Er nahm ihren Arm, und sie spürte den Druck seiner Finger durch ihren Wollpullover. Am liebsten hätte sie sich losgerissen und wäre gegangen und hätte sich endgültig von ihm verabschiedet. Sie hatte keine Lust, jetzt mit dem Mistkerl spazieren zu gehen und sich seine Lügenmärchen über Vivienne Tully anzuhören.
Er sagte:»Kinder wollen nichts über die Sexualität ihrer Eltern wissen. Das ist ganz normal.«
«Wenn es mit Mum zu tun hat …«
«Gott, nein. Deine Mutter hat nie … Egal. Es hat mit mir zu tun. Ich habe Vivienne begehrt wegen ihrer Jugend, ihrer Unverbrauchtheit.«
«Ich will das nicht …«
«Du hast das Thema aufgebracht, meine Liebe. Jetzt musst du dir auch anhören, was ich dazu zu sagen habe. Ich habe Vivienne nie verführt. Hattest du das angenommen?«Er schaute sie an, doch Manette hielt den Blick auf den mit Kies bedeckten Pfad geheftet, folgte seinen Windungen vom See zum Wald hinauf.»Ich bin kein primitiver Schürzenjäger, Manette«, sagte Fairclough.»Ich habe sie angesprochen. Damals arbeitete sie seit ungefähr zwei Monaten für mich. Ich war ganz offen zu ihr, genauso offen, wie ich deiner Mutter gegenüber war, als ich sie kennengelernt habe. Eine Ehe kam für uns nicht in Frage, ich habe nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet. Also habe ich ihr gesagt, ich hätte sie gern als Geliebte, ein diskretes Arrangement, von dem niemand erfahren würde, etwas, das ihre Karriere in keiner Weise behindern würde, denn ich wusste ja, wie viel Wert sie auf ihre berufliche Laufbahn legte. Sie besaß einen klugen Kopf und hatte eine großartige Zukunft vor sich. Und ich habe nicht erwartet, dass sie ihre Fähigkeiten ein Leben lang in Barrow-in-Furness vergeuden oder ihre ehrgeizigen Pläne aufgeben würde, nur weil ich mit ihr ins Bett gehen wollte.«
«Ich will das alles nicht hören«, sagte Manette unwirsch. Ihr Hals schmerzte so sehr, dass sie die Worte kaum herausbrachte.
«Du hast mich auf Vivienne angesprochen, und jetzt wirst du mir zuhören. Sie hat sich Bedenkzeit ausgebeten. Zwei Wochen lang hat sie über meinen Vorschlag nachgedacht. Dann ist sie zu mir gekommen und hat mir ihrerseits einen Vorschlag gemacht. Sie würde mich als Liebhaber ausprobieren, sagte sie. Sie meinte, sie hätte nie gedacht, dass sie einmal jemandes Geliebte sein würde, erst recht nicht die Geliebte eines Mannes, der älter war als ihr Vater. Das fand sie ziemlich geschmacklos, wie sie sich ausdrückte, denn sie gehörte nicht zu den Frauen, die Geld sexy finden. Sie fühlte sich von jungen Männern angezogen, Männern in ihrem Alter, und sie konnte sich nicht vorstellen, mit mir ins Bett zu gehen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ich sie erregen könnte. Doch wenn ich sie als Liebhaber zufriedenstellte, womit sie, offen gesagt, nicht rechnete, dann würde sie sich auf das Arrangement einlassen. Wenn ich sie nicht zufriedenstellte, würde es — in ihren Worten — kein böses Blut zwischen uns geben.«
«Mein Gott. Sie hätte dich anzeigen können. Das hätte dich Hunderttausende von Pfund kosten können. Sexuelle Belästigung …«
«Das wusste ich. Aber das ist das, was ich meinte, als ich eben sagte, dass es einfach über einen kommt. Wer das nicht erlebt hat, kann das nicht verstehen. Man redet sich die Dinge schön, und plötzlich kommt einem alles vollkommen vernünftig vor, selbst einer Angestellten einen solchen Vorschlag zu machen und dann ihren Gegenvorschlag anzunehmen. «Vom See her war ein leichter Wind aufgekommen. Manette fröstelte. Ihr Vater legte ihr einen Arm um die Taille und sagte:»Es wird bald regnen. «Eine Weile gingen sie schweigend weiter, dann fuhr er fort:»Eine Zeitlang haben wir zwei verschiedene Rollen gespielt, Vivienne und ich. In der Firma waren wir Chef und Chefsekretärin, und es gab nicht das geringste Anzeichen dafür, dass sich irgendetwas zwischen uns abspielte. Und bei anderen Gelegenheiten waren wir ein Mann und seine Geliebte, wobei das korrekte Verhalten, das wir in der Firma an den Tag legten, den Reiz ausmachte für das, was nachts passierte. Irgendwann hatte sie dann genug davon. Sie konnte sich beruflich verbessern, und ich war nicht so dumm, sie aufzuhalten. Ich musste sie gehen lassen, und das habe ich getan, so wie ich es von Anfang an versprochen hatte, und ihr alles Gute gewünscht.«
«Wo ist sie jetzt?«
«Ich habe keine Ahnung. Sie hat eine Stelle in London angenommen, aber das ist schon einige Zeit her. Wahrscheinlich hat sie danach noch weiter Karriere gemacht.«
«Und was ist mit Mum? Wie konntest du ihr das …«
«Deine Mutter hat nie davon erfahren, Manette.«
«Aber Mignon weiß Bescheid, stimmt’s?«
Fairclough schaute zum See hinunter. Ein paar Enten flogen in V-Formation über sie hinweg, kurvten über den See und kamen wieder zurück. Schließlich antwortete er:»Ja, sie weiß davon. Mir ist rätselhaft, wie sie es herausgefunden hat. Ich wundere mich sowieso, woher sie immer alles weiß.«
«Deswegen hat sie es geschafft …«
«Ja.«
«Und Ian? Wieso hat er Vivienne regelmäßig Geld überwiesen?«
Fairclough schüttelte den Kopf, dann schaute er seine Tochter an.»Gott ist mein Zeuge, Manette: Ich weiß es nicht. Wenn Ian Vivienne Geld überwiesen hat, dann kann ich mir nur vorstellen, dass er es getan hat, um mich vor irgendetwas zu schützen. Wahrscheinlich hat sie Kontakt zu ihm aufgenommen, ihm mit irgendetwas gedroht … Ich weiß es einfach nicht.«