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«Vielleicht hat sie gedroht, es Mum zu erzählen. So wie Mignon. Das tut sie doch, oder? Sie droht dir, es Mum zu erzählen, wenn du ihr nicht gibst, was sie will. Was würde Mum denn tun, wenn sie davon erführe?«

Als Fairclough sie anschaute, fand Manette zum ersten Mal, dass ihr Vater alt aussah. Ja, er wirkte regelrecht zerbrechlich.»Deine Mutter wäre am Boden zerstört, meine Liebe«, sagte er.»Nach all den Jahren würde ich ihr das gern ersparen.«

BRYANBARROW — CUMBRIA

Tim konnte Gracie vom Fenster aus sehen. Sie sprang auf ihrem Trampolin rum. Sie war jetzt schon über eine Stunde da draußen und voller Konzentration bei der Sache. Manchmal fiel sie auf den Hintern, aber sie stand jedes Mal wieder auf und setzte ihre Sprungübungen fort.

Vorher hatte Tim sie im Garten hinter dem Haus gesehen. Sie hatte ein Loch gegraben, und neben ihr hatte ein mit einer roten Schleife zugebundener Karton gestanden. Als das Loch tief und breit genug war, hatte sie den Karton hineingestellt und mit Erde bedeckt. Dann hatte sie die übrig gebliebene Erde mit einem Eimer überall im Garten verteilt, obwohl solche Sorgfalt völlig überflüssig war. Aber bevor sie die Erde verteilt hatte, war sie niedergekniet und hatte die Arme vor der Brust gekreuzt: rechte Faust an die linke Schulter und linke Faust an die rechte Schulter. Das hatte Tim an die Haltung von den steinernen Engeln auf alten viktorianischen Friedhöfen erinnert, und da war ihm auf einmal klar geworden, was seine Schwester da draußen getan hatte: Sie hatte ihre Puppe Bella beerdigt.

Man hätte Bella reparieren können. Tim hatte sie ziemlich gründlich kaputt gemacht, aber man hätte die Arme und Beine wieder annähen können. Doch davon hatte Gracie nichts wissen wollen, genauso wie sie nichts von Tim hatte wissen wollen, als er zu ihr gegangen war. Nachdem er aus dem Bach geklettert war, hatte er sich trockene Sachen angezogen, war in Gracies Zimmer gegangen und hatte ihr angeboten, ihr die Haare zu kämmen und zu flechten. Aber sie hatte nur gesagt:»Rühr mich nicht an! Und Bella auch nicht!«Sie hatte nicht mal traurig geklungen, nur resigniert.

Nachdem sie die Puppe beerdigt hatte, war sie zum Trampolin gegangen. Und seitdem sprang sie darauf herum. Tim wollte, dass sie damit aufhörte, wusste aber nicht, wie er sie dazu bringen konnte. Er überlegte, ob er seine Mutter anrufen sollte, verwarf den Gedanken jedoch so schnell, wie er ihm gekommen war. Er wusste, was sie sagen würde:»Sie hört schon wieder auf, wenn sie müde ist. Ich werde nicht extra nach Bryanbarrow fahren, um deine Schwester vom Trampolin zu zerren. Wenn es dich dermaßen stört, sag Kaveh, er soll sie ins Haus rufen … Der spielt doch so gern den Papa«, würde sie noch hämisch hinzufügen. Und dann würde sie zu Wilcox gehen, diesem Wichser, um es sich von einem richtigen Mann besorgen zu lassen. Genauso sah sie das. Charlie Wilcox wollte sie bumsen, also war er ein richtiger Mann. Und jeder, der sie nicht bumsen wollte, wie Tims Vater zum Beispiel, war in ihren Augen ein Arschloch. Und das stimmte ja sogar, dachte Tim. Sein Vater war ein Arschloch gewesen, und Kaveh war ebenfalls ein Arschloch, und allmählich wurde Tim klar, dass er von lauter Arschlöchern umgeben war.

Nachdem er versucht hatte, die Enten im Bach zu erwischen, war er nach Hause gekommen. Kaveh war hinter ihm hergelaufen und hatte versucht, mit ihm zu reden, aber mit dem Typen wollte er nichts zu tun haben. Schlimm genug, dass der Wichser ihn mit seinen ekelhaften Pfoten angepackt hatte. Auch noch mit ihm reden zu müssen … das wäre das Allerletzte.

Vielleicht konnte Kaveh jedoch Gracie überreden, von dem Trampolin runterzukommen, dachte Tim. Vielleicht konnte er sie sogar dazu überreden, Tim die Puppe ausgraben zu lassen. Dann könnte er sie zum Reparieren nach Windermere bringen. Gracie mochte Kaveh, weil sie eben so war. Sie mochte jeden. Sie würde auf Kaveh hören. Kaveh hatte ihr schließlich nichts getan — außer dass er ihre Familie zerstört hatte, natürlich.

Aber dazu würde Tim mit Kaveh reden müssen. Er würde nach unten gehen und ihm sagen müssen, dass Gracie draußen auf dem Trampolin herumsprang. Wahrscheinlich würde Kaveh sagen, dass es vollkommen in Ordnung war, auf einem Trampolin herumzuspringen, dass die Dinger schließlich dazu da waren, immerhin hätten sie Gracie extra so ein Teil gekauft, weil ihr das Trampolinspringen so viel Spaß machte. Dann würde Tim ihm erklären müssen, dass sie jetzt schon über eine Stunde auf dem Trampolin rumhopste, weil sie kreuzunglücklich war. Und Kaveh würde natürlich antworten: Tja, und wir wissen ja beide, warum sie so unglücklich ist, nicht wahr?

Tim hatte das nicht gewollt. Das war ja das Problem. Er hatte Gracie nicht zum Weinen bringen wollen. Gracie war der einzige Mensch, der ihm etwas bedeutete. Sie war ihm in dem Moment einfach in die Quere gekommen. Er hatte überhaupt nicht nachgedacht, als er sich Bella geschnappt und ihr die Arme und Beine ausgerissen hatte. Er hatte einfach irgendetwas tun müssen, weil er innerlich so gekocht hatte. Aber wie sollte Gracie das verstehen, wenn sie nicht innerlich kochte? Sie sah nur die Gemeinheit, mit der er Bella geschnappt und zerrissen hatte.

Gracie hatte aufgehört zu springen. Tim sah, dass sie schwer atmete. Und dann entdeckte er etwas Neues an Gracie, das ihm einen Schrecken einjagte. Sie bekam Brüste! Er sah genau, wie sie sich unter ihrem Pullover abzeichneten.

Das machte ihn so traurig, dass sich ihm der Blick verschleierte, und als er wieder klar sehen konnte, hatte Gracie wieder angefangen zu springen. Diesmal beobachtete er ihre kleinen Brüste. Er musste sich unbedingt um Gracie kümmern.

Seine Mutter anzurufen wäre völlig zwecklos, dachte er zum zweiten Mal. Dass Gracie Brüste bekam, bedeutete, dass ihre Mum irgendetwas unternehmen musste, zum Beispiel mit ihr in die Stadt fahren und einen Baby-BH kaufen oder was auch immer Mädchen trugen, wenn das mit den Brüsten losging. Das war etwas ganz anderes als die Sache mit dem Trampolin. Aber Niamh würde dazu dasselbe sagen, was sie zu allem sagte: Soll Kaveh sich doch darum kümmern.

Es lief alles auf dasselbe hinaus: Egal, was in den nächsten Jahren auf Gracie zukam, mit der Unterstützung ihrer Mum konnte sie nicht rechnen, denn es bestand kein Zweifel daran, dass in Niamh Cresswells Lebensplanung die Kinder, die sie mit ihrem nichtsnutzigen Ehemann gezeugt hatte, nicht vorkamen. Also mussten entweder Tim oder Kaveh Gracie beim Erwachsenwerden beistehen. Oder sie mussten es gemeinsam tun.

Tim verließ sein Zimmer. Kaveh war irgendwo im Haus, und am besten sagte er ihm jetzt gleich, dass sie mit Gracie nach Windermere fahren mussten, um ihr zu besorgen, was sie brauchte. Wenn sie es nicht taten, würden die Jungs in der Schule sie aufziehen. Und irgendwann würden auch die Mädchen damit anfangen. Aber Tim würde nicht zulassen, dass die anderen Kinder seine Schwester herumschubsten.

Als er die Treppe hinunterging, hörte er Kaveh reden. Seine Stimme kam aus dem Kaminzimmer. Die Tür stand einen Spaltbreit offen, und Licht fiel in den Flur. Tim hörte, wie mit einem Schürhaken im Kamin herumgestochert wurde.

«… habe ich eigentlich nicht vor«, sagte Kaveh höflich zu jemandem.

«Sie haben doch nicht etwa vor zu bleiben, jetzt, wo Cresswell tot ist. «Tim erkannte George Cowleys Stimme. Und er wusste sofort, worüber die beiden sprachen: über die Bryan Beck Farm. Offenbar witterte George Cowley seine Chance, das Gutshaus zu kaufen.

«Doch, das habe ich vor«, sagte Kaveh.

«Ach, Sie wollen wohl Schafe züchten?«Die Vorstellung schien Cowley zu amüsieren. Wahrscheinlich stellte er sich gerade vor, wie Kaveh in pinkfarbenen Gummistiefeln und einer fliederfarbenen Regenjacke zwischen den Schafen herumhüpfte.

«Ich hatte gehofft, Sie würden das Land weiterhin pachten«, sagte Kaveh.»Das war doch bisher eine gute Lösung. Ich wüsste nicht, warum es das nicht auch in Zukunft sein sollte. Abgesehen davon würde das Land ziemlich viel einbringen, falls es einmal zum Verkauf kommen sollte.«