«Verstehe. «Valerie war nach wie vor freundlich, aber ihr abruptes Stehenbleiben ließ darauf schließen, dass es Dinge im Zusammenhang mit Cresswells Tod gab, von denen sie nicht wollte, dass St. James und Lynley sie erfuhren. Und eins davon, dachte St. James, hatte mit dem Turm zu tun, den die Faircloughs für ihre Tochter hatten errichten lassen.
«›In meinem Bootshaus schwimmt ein Toter‹, so haben Sie sich offenbar ausgedrückt«, sagte St. James.
Sie wandte sich ab. Ein leichtes Zucken in ihrem Gesicht erinnerte Lynley an das Kräuseln der Wasseroberfläche hinter ihnen. Irgendetwas hatte sie einen Moment lang aus der Fassung gebracht. Sie hob eine Hand und schob sich eine Strähne aus der Stirn. Die Baseballmütze hatte sie nicht wieder aufgesetzt. Das Sonnenlicht fiel auf ihr Gesicht und hob ihre feinen Fältchen hervor, Altersspuren, die sie offenbar in Schach zu halten versuchte.
«Niemand kann sagen, wie er in einer solchen Situation reagieren wird«, sagte sie.
«Da gebe ich Ihnen recht. Aber das zweite merkwürdige Detail jenes Tages ist die Kleidung, die Sie trugen, als Sie die Polizei und den Krankenwagen in der Einfahrt erwarteten. Sie waren nicht für einen Spaziergang gekleidet, erst recht nicht für einen Spaziergang im Herbst.«
Lynley, der verstand, worauf St. James hinauswollte, sagte:»Sie sehen also, dass sich mehrere Möglichkeiten anbieten. «Er ließ ihr einen Augenblick Zeit zum Nachdenken, ehe er fortfuhr:»Sie waren gar nicht im Bootshaus, nicht wahr? Sie haben weder die Leiche gefunden noch den Anruf bei der Polizei getätigt.«
«Ich habe doch meinen Namen genannt, als ich angerufen habe«, erwiderte Valerie steif. Aber sie war nicht dumm. Sie musste wissen, dass zumindest dieser Teil des Spiels aus war.
«Jeder kann am Telefon irgendeinen Namen nennen«, bemerkte St. James.
«Vielleicht sollten Sie endlich die Wahrheit sagen«, fügte Lynley hinzu.»Es geht um Ihre Tochter, nicht wahr? Ich nehme an, Mignon hat den Toten gefunden und dann bei der Polizei angerufen. Von ihrem Turm aus kann sie das Bootshaus sehen. Wenn sie auf dem Dach des Turms steht, kann sie wahrscheinlich sowohl die Tür des Bootshauses als auch die Boote sehen, die ein und aus fahren. Die eigentliche Frage, die wir beantworten müssen, lautet also, ob auch sie einen Grund gehabt hätte, Ian Cresswell in den Tod zu schicken. Denn sie hat doch sicherlich gewusst, dass er an dem Abend auf den See hinausgerudert ist, nicht wahr?«
Valerie hob die Augen zum Himmel. St. James fühlte sich unwillkürlich an eine Pietà-Darstellung erinnert und musste daran denken, was die Mutterschaft für eine Frau bedeutete. Es hörte nicht auf, wenn die Kinder erwachsen wurden. Es ging weiter, bis entweder die Mutter oder die Kinder starben. Valerie sagte:»Keins von meinen Kindern …«Sie brach ab und schaute erst St. James und dann Lynley an.»Meine Kinder sind in jeder Hinsicht unschuldig.«
St. James sagte:»Wir haben ein Filetiermesser im Wasser gefunden. «Er zeigte ihr das Messer, mit dem er die Steine gelockert hatte.»Natürlich nicht dieses, aber ein ganz ähnliches.«
«Das wird das Messer gewesen sein, das ich vor ein paar Wochen verloren habe«, sagte sie.»Ich war dabei, eine ziemlich große Forelle zu säubern, dabei ist es mir ins Wasser gefallen.«
«Wirklich?«, fragte Lynley.
«Wirklich«, antwortete sie.»Ich bin eben manchmal ungeschickt.«
Lynley und St. James sahen einander an. Es war klar, dass Valerie log, denn der Arbeitstisch zum Ausnehmen der Fische stand viel zu weit weg. Das Messer hätte schon schwimmen müssen, um unter Ian Cresswells Boot zu gelangen.
In natura sah Vivienne Tully genauso aus wie auf den Fotos, die Barbara von ihr im Internet gefunden hatte. Vivienne war genauso alt wie Barbara, aber sie hätten nicht unterschiedlicher sein können. Wahrscheinlich träumte Isabelle Ardery davon, dass Barbara irgendwann so aussah wie Vivienne: schlanker Körper, elegant gekleidet einschließlich aller erforderlichen Accessoires, topmodische Frisur und perfektes Make-up. Schon allein aus Prinzip konnte Barbara die Frau auf den ersten Blick nicht ausstehen.
Sie hatte sich entschlossen, bei ihrem nächsten Besuch in der Rutland Gate nicht als Interessentin an einer Immobilie aufzutreten, sondern als Sergeant Havers. Sie hatte die Klingel für Apartment Nr. 6 gedrückt, und Vivienne Tully — oder wer auch immer — hatte, ohne weiter nachzufragen, den Türöffner betätigt. Daraus schloss Barbara, dass Vivienne Besuch erwartete, denn kaum jemand würde die Haustür öffnen, ohne sich zu erkundigen, was derjenige wollte, der geklingelt hatte. Auf diese Weise wurden Leute ausgeraubt. Wenn nicht sogar ermordet.
Der Besuch, den Vivienne Tully erwartete, war eine Immobilienmaklerin, wie Barbara ziemlich schnell feststellte. Nachdem sie sie einmal von oben bis unten gemustert hatte, fragte Vivienne entgeistert:»Sie sind von Foxtons?«Da Barbara jedoch nicht wegen eines Schönheitswettbewerbs gekommen war, beschloss sie, die Bemerkung nicht als Beleidigung aufzufassen. Und sie verzichtete auch darauf, sich als die erwartete Person auszugeben, denn Vivienne Tully würde nie im Leben glauben, dass eine Immobilienmaklerin in roten Turnschuhen, einer orangefarbenen Cordhose und einer marineblauen Donkeyjacke an ihre Tür klopfen würde.
Also sagte sie:»Detective Sergeant Havers, New Scotland Yard. Ich muss mit Ihnen reden.«
Zu Barbaras Verwunderung zeigte Vivienne sich nicht im Mindesten schockiert.»Kommen Sie rein«, sagte sie.»Aber ich fürchte, ich habe nicht viel Zeit. Ich habe gleich einen Termin.«
«Mit Foxtons. Schon klar. Sie verkaufen?«Barbara sah sich um, während Vivienne die Tür schloss. Die Wohnung war traumhaft schön: hohe Decken, aufwendiger Stuck, Perserteppiche auf Parkettboden, geschmackvolle Antiquitäten, ein offener Kamin mit marmornem Sims. Sie musste ein Vermögen gekostet haben und würde jetzt das Doppelte oder Dreifache einbringen. Das Merkwürdige war, dass keinerlei persönliche Gegenstände zu sehen waren. Vielleicht konnte man einige ausgewählte Stücke deutschen Porzellans als persönlich bezeichnen, dachte Barbara, aber die Sammlung antiker Bücher in einem Bücherschrank sah nicht gerade so aus, als wäre sie als Lesestoff für regnerische Tage gedacht.
«Ich gehe nach Neuseeland«, sagte Vivienne.»Zeit, in die Heimat zurückzukehren.«
«Sie sind in Neuseeland geboren?«, fragte Barbara, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Vivienne hatte keinen erkennbaren Akzent und hätte ohne Weiteres lügen können.
Aber das tat sie nicht.»Ja, in Wellington«, sagte sie.»Meine Eltern leben dort. Sie werden allmählich alt und hätten mich gern in ihrer Nähe.«
«Sie sind also schon eine Weile in England?«
«Darf ich fragen, warum Sie das wissen wollen, Sergeant Havers? Und womit ich Ihnen behilflich sein kann?«
«Indem Sie mir von Ihrer Beziehung zu Bernard Fairclough erzählen. Das wäre schon mal ein Anfang.«
Viviennes Gesichtsausdruck blieb vollkommen liebenswürdig.»Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht. Um was genau geht es eigentlich?«
«Um den Tod von Ian Cresswell. Ich nehme an, dass Sie ihn gekannt haben, da Sie eine Zeitlang gleichzeitig mit ihm bei Fairclough Industries gearbeitet haben.«
«Wäre es dann nicht logisch, mich zu fragen, was für ein Verhältnis ich zu Ian Cresswell hatte?«
«Dazu wäre ich als Nächstes gekommen. Im Moment interessiert mich eher der Fairclough-Ansatz. «Barbara ließ ihren Blick durch die Wohnung schweifen und nickte anerkennend.»Hübsche Hütte. Darf ich Platz nehmen?«Ohne auf eine Antwort zu warten, ging sie zu einem Sessel, stellte ihre Tasche daneben auf den Boden und ließ sich in die Polster sinken. Sie fuhr mit der Hand über den kostbaren Bezugsstoff. Verflixt und zugenäht — sollte das etwa Seide sein? Offensichtlich kaufte Vivienne Tully ihr Mobiliar nicht bei IKEA.
«Ich sagte ja bereits, dass ich einen Termin …«