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Sie ging weiter. Vor dem Eingang zu dem Gebäude blieb sie erneut stehen und sagte liebevolclass="underline" »Ach, Tommy. «Er entgegnete nichts. Sie wusste, was es ihn gekostet hatte, ihr diese Frage zu stellen. Sie sagte:»Mach dir keine Sorgen. Mir passiert schon nichts. Jetzt, wo der Journalist mich für eine Polizistin hält, brauchst du nicht zu fürchten, dass er dir auf die Spur kommt und die Source davon erfährt. Und für mich ist diese kleine Scharade auch ein Schutz: Er wird der Gans, die ihm goldene Eier legt, kein Haar krümmen, und er wird auch nicht zulassen, dass jemand anders es tut.«

Sie hörte ihn seufzen.»Sei vorsichtig«, sagte er.

«Na klar«, antwortete sie.»Und bitte: kein Wort zu Simon.«

«Wenn er mich fragt …«

«Das wird er nicht. «Sie legte auf.

Sofort klingelte ihr Handy erneut.»Mit wem zum Teufel telefonieren Sie?«, wollte Zed Benjamin wissen.»Ich versuche die ganze Zeit, Sie zu erreichen! Wo stecken Sie, verdammt?«

Deborah sagte ihm die Wahrheit. Sie habe mit einem DI von Scotland Yard telefoniert. Sie stehe gerade vor dem … George Childress Centre und werde jetzt hineingehen, um herauszufinden, was in diesem Gebäude untergebracht sei. Sie riet ihm ab, zu ihr zu kommen, da er einfach zu auffällig sei.

Das schien er einzusehen.»Also gut. Rufen Sie mich an, sobald Sie irgendetwas in Erfahrung gebracht haben. Und versuchen Sie nicht, mich reinzulegen, sonst stehen Sie morgen in der Zeitung, und Ihre ganze verdeckte Ermittlung fliegt auf.«

«Alles klar.«

Sie klappte ihr Handy zu und betrat das Gebäude. In der Eingangshalle gab es vier Aufzüge und einen Wachmann. An dem Wachmann würde sie nicht vorbeikommen, das brauchte sie gar nicht erst zu versuchen. Sie sah sich um. Zwischen zwei dahinsiechenden Bambuspflanzen in Kübeln entdeckte sie eine verglaste Anschlagtafel. Sie ging näher, um die Aushänge zu lesen.

Das Gebäude beherbergte alle möglichen Büros, Behandlungsräume und Labors und gehörte offenbar zur Fakultät für Wissenschaft und Technik, was ihr ein triumphierendes» Ja!«entlockte. Fieberhaft suchte sie nach etwas, von dem sie intuitiv wusste, dass es da war. Und sie wurde fündig: Ebenfalls untergebracht in dem Gebäude war das Institut für Reproduktionsmedizin. Sie hatte die ganze Zeit recht gehabt. Und Simon hatte sich geirrt.

NEWBY BRIDGE — CUMBRIA

Nachdem Lynley das Gespräch beendet hatte, schaute er seinen Freund an. St. James hatte ihn während des Gesprächs mit Deborah beobachtet. Lynley kannte kaum jemanden, der so gut zwischen den Zeilen lesen konnte wie St. James — auch wenn er diesmal nicht viel hatte zwischen den Zeilen lesen müssen. Lynley hatte dafür gesorgt, dass St. James genau mitbekam, wo Deborah war und mit wem sie sich zusammengetan hatte, ohne sie direkt zu verraten.

«Diese Frau bringt mich zur Verzweiflung«, bemerkte St. James.

Lynley hob ratlos die Schultern.»Tun das nicht alle Frauen?«

St. James seufzte.»Ich hätte ein Machtwort sprechen sollen.«

«Herrgott noch mal, Simon, sie ist erwachsen. Du kannst sie schlecht mit Gewalt nach London zerren.«

«Genau das hat sie mir auch gesagt. «St. James rieb sich die Stirn. Er sah aus, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen.»Leider sind wir mit zwei Mietwagen hier, sonst hätte ich sie einfach vor die Wahl stellen können: Komm mit zum Flughafen oder sieh zu, wie du nach Hause kommst.«

«Ich bezweifle, dass das gut angekommen wäre. Und du weißt, wie sie darauf reagiert hätte.«

«Allerdings. Das ist es ja gerade. Ich kenne meine Frau.«

«Danke, dass du hergekommen bist, Simon. Dass du mir geholfen hast.«

«Ich hätte dir lieber mit einem eindeutigen Befund gedient. Aber egal, wie ich es drehe und wende, ich komme immer wieder zu demselben Schluss: dass es ein unglücklicher Unfall war.«

«Trotz der vielen Motive? Jeder hier scheint eins zu haben. Mignon, Freddie McGhie, Nick Fairclough, Kaveh Mehran. Weiß der Himmel, wer sonst noch.«

«Ja, trotzdem«, sagte St. James.

«Und nicht das perfekte Verbrechen?«

St. James betrachtete die Hainbuchenhecke vor dem Fenster, die in prächtigen Herbstfarben erstrahlte, während er über Lynleys Frage nachdachte. Sie hatten sich zum Kaffee in der Nähe von Newby Bridge in einem etwas heruntergekommenen viktorianischen Hotel getroffen. Helen hätte begeistert ausgerufen Wie wunderbar dekadent, Tommy, um die hässlichen Teppiche, die Staubschicht auf den Hirschgeweihen an den Wänden und die durchgesessenen Sofas und Sessel zu entschuldigen. Einen Moment lang fehlte sie Lynley so sehr, dass ihm fast der Atem stockte. Er atmete tief durch, wie er es gelernt hatte. Alles geht vorbei, dachte er. Auch das.

St. James wandte sich wieder vom Fenster ab.»Natürlich hat es früher einmal perfekte Verbrechen gegeben. Aber heutzutage ist es nahezu unmöglich, ein perfektes Verbrechen zu begehen. Die Forensik ist zu weit fortgeschritten, Tommy. Heute gibt es Möglichkeiten zur Spurensicherung, die noch vor fünf Jahren absolut undenkbar waren. In der heutigen Zeit wäre ein Verbrechen vielleicht dann perfekt, wenn niemand auf die Idee käme, dass überhaupt ein Verbrechen begangen wurde.«

«Aber trifft nicht genau das in diesem Fall zu?«

«Nicht, nachdem bereits eine polizeiliche Untersuchung durchgeführt wurde. Nicht, nachdem Bernard Fairclough extra nach London gefahren ist, um dich zu bitten, dir den Fall noch einmal anzusehen. Das perfekte Verbrechen der Gegenwart ist eines, bei dem niemand auch nur auf die Idee käme, dass es sich um ein solches handelt. Es gibt keine polizeilichen Ermittlungen, der Hausarzt stellt den Totenschein aus, die Leiche wird innerhalb von achtundvierzig Stunden im Krematorium verbrannt und fertig. In unserem Fall jedoch wurde jede Spur überprüft, ohne dass etwas darauf hindeuten würde, dass Ian Cresswells Tod etwas anderes als ein Unfall war.«

«Und wenn nicht Ian, sondern Valerie das Opfer sein sollte?«

«Das würde am Ergebnis nichts ändern. «St. James trank einen Schluck Kaffee.»Wenn das ein Mordanschlag war, Tommy, und wenn eigentlich Valerie aus dem Weg geschafft werden sollte, dann hätte es dazu viel einfachere Möglichkeiten gegeben, das musst du doch zugeben. Alle wussten, dass nicht nur Valerie, sondern auch Ian regelmäßig im Bootshaus war. Warum riskieren, dass er ums Leben kommt, wenn eigentlich sie sterben soll? Und wo ist das Motiv? Und selbst wenn es ein Motiv gibt, wirst du es mit Hilfe forensischer Untersuchungen auch nicht herausfinden.«

«Also haben wir eigentlich gar keinen Fall.«

«So wie ich die Sache sehe, nein. «St. James lächelte bedauernd.»Und deswegen sage ich dir, was ich — wenn auch ohne Erfolg — schon zu Deborah gesagt habe: Es ist Zeit, nach London zurückzukehren.«

«Und was ist mit einer Verbrechensabsicht?«

«Was ist das?«

«Man wünscht einem anderen den Tod. Man hofft, dass er stirbt. Irgendwann plant man sogar einen Mord. Aber ehe man den Plan in die Tat umsetzen kann, kommt einem ein Unfall zuvor. Das vorgesehene Opfer stirbt. Könnten wir es mit so etwas zu tun haben?«

«Natürlich. Aber selbst wenn — man kann in diesem Fall von keiner Schuld reden, und niemand verhält sich so, als würde er sich schuldig fühlen.«

Lynley nickte nachdenklich.»Trotzdem …«

«Was?«

«Ich werde das Gefühl nicht los …«Lynleys Handy klingelte. Er warf einen Blick aufs Display und sagte zu St. James:»Havers.«

«Vielleicht hat sie ja Neuigkeiten.«

«Ich hoffe es. «Lynley nahm das Gespräch an und sagte:»Erzählen Sie mir etwas Neues, Sergeant. Ich bin dankbar für alles.«