»Nein, Euer Exzellenz.«
»Hab ich mir gedacht«, sagte Almont. »Nun, wir werden uns eine Möglichkeit überlegen, wie wir Mr Hackletts Ränkespielchen ein für alle Mal unterbinden.«
Er trat ans Fenster seines Schlafgemachs und blickte hinaus. Im Licht der Morgendämmerung steuerte die Cassandra jetzt gen Osten um die Spitze von Lime Cay, hisste das Großsegel und nahm Fahrt auf.
Wie alle Freibeuterschiffe steuerte die Cassandra zunächst Bull Bay an, eine kleine Bucht ein paar Meilen östlich von Port Royal. Dort angekommen, drehte Mr Enders das Schiff in den Wind, und mit schlaff in der leichten Brise flatternden Segeln hielt Captain Hunter seine Rede.
Allen an Bord waren drei Formalitäten bekannt. Erstens, Hunter verlangte eine einstimmige Wahl zum Kapitän des Schiffes; ein Chor von Ja-Stimmen begrüßte ihn. Dann legte er die Regeln der Reise fest – kein Alkohol, keine Unzucht und keine Plünderungen ohne seinen Befehclass="underline" Wer gegen diese Regeln verstieß, wurde mit dem Tode bestraft. Sie waren üblich und wurden nur kleinlaut mit Ja bestätigt.
Als Nächstes erläuterte er die Aufteilung der Beute. Als Kapitän würde Hunter dreizehn Anteile bekommen. Sanson würde sieben erhalten – die Zahl wurde mit einigem Gemaule quittiert – und Mr Enders anderthalb. Lazue würde eineinviertel bekommen. Ebenso Black Eye. Der Rest würde gleichmäßig unter der Besatzung aufgeteilt.
Einer der Seeleute ergriff das Wort. »Captain, ist Matanceros unser Ziel? Das ist gefährlich.«
»Ja, das ist es«, sagte Hunter, »aber die Beute ist gewaltig. Jeder Einzelne wird reichlich belohnt werden. Jeder, der die Gefahr für zu groß hält, wird hier an Land gesetzt, in dieser Bucht, ohne meine Wertschätzung zu verlieren. Doch er muss von Bord gehen, bevor ich euch von dem Schatz erzähle, der dort zu holen ist.«
Er wartete. Niemand rührte sich oder sagte etwas.
»Also gut«, sagte Hunter. »Im Hafen von Matanceros liegt eine Nao aus der spanischen Schatzflotte, und die werden wir uns schnappen.« Die Besatzung brach in jubelndes Getöse aus, das Hunter erst nach einigen Minuten bändigen konnte. Und als alle wieder verstummt waren und ihn anblickten, sah er das Funkeln in den Augen, das von Goldvisionen gespeist wurde. »Seid ihr dabei?«, rief Hunter. Alle antworteten mit einem lauten Schrei.
»Dann auf nach Matanceros.«
TEIL II
DAS SCHWARZE SCHIFF
KAPITEL 14
Aus der Ferne betrachtet, bot die Cassandra einen prächtigen Anblick. Die Segel waren straff in der Morgenbrise gespannt, sie war um ein paar Grad gekrängt und pflügte zischend einen Pfad durch das klare blaue Wasser.
An Bord des Schiffes war es jedoch eng und unangenehm. Sechzig kampferprobte Männer, schmuddelig und übelriechend, rangelten sich um ein Plätzchen zum Sitzen, Kartenspielen oder Schlafen in der Sonne. Sie erleichterten sich hemmungslos ins Meer, und ihrem Kapitän bot sich häufig der Anblick von einem halben Dutzend nackter Hinterteile dar, die leewärts über das Schandeck ragten.
Am ersten Tag wurde weder Essen noch Wasser ausgegeben. Die Mannschaft hatte damit gerechnet und am letzten Abend in Port ordentlich feste und flüssige Nahrung zu sich genommen.
Zudem ging Hunter am Abend nicht vor Anker. Für gewöhnlich steuerten die Freibeuter irgendeine geschützte Bucht an, damit die Besatzung an Land schlafen konnte. Doch Hunter segelte die erste Nacht ohne Unterbrechung durch. Er hatte zwei Gründe zur Eile. Erstens fürchtete er Spione, die womöglich nach Matanceros aufbrachen, um die dort stationierte Garnison zu warnen. Und zweitens wollte er nicht unnötig Zeit verlieren, da das Schatzschiff den Hafen von Matanceros jederzeit verlassen konnte.
Am Ende des zweiten Tages kreuzten sie in nordöstlicher Richtung durch die gefährliche Passage zwischen Hispaniola und Kuba. Die Besatzung kannte sich in der Region gut aus, weil sie höchstens eine Tagesfahrt von der Insel Tortuga entfernt waren, die seit Langem als Piratenstützpunkt diente.
Hunter fuhr auch den dritten Tag durch und ließ am Abend anlegen, damit seine erschöpfte Mannschaft sich die Nacht über ausruhen konnte. Am folgenden Tag, so wusste er, würde die lange Fahrt über den Ozean vorbei an Inagua und dann nach Matanceros selbst beginnen. Sie würden auf der Strecke nirgendwo sicher landen können. Sobald sie Breitengrad 20 überquert hatten, befanden sie sich in gefährlichen spanischen Gewässern.
Seine Leute waren guter Dinge, saßen an Lagerfeuern, lachten und scherzten. Im Laufe der letzten drei Tage hatten nur einen einzigen Mann Visionen von den kriechenden Teufeln heimgesucht, die manchmal mit dem Verzicht auf Rum einhergingen. Der Mann war inzwischen ruhiger und zitterte nicht mehr am ganzen Leib.
Zufrieden starrte Hunter in das Feuer vor ihm. Sanson kam herüber und setzte sich neben ihn.
»Was denkt Ihr?«
»Nichts Bestimmtes.«
»Brütet Ihr über Cazalla nach?«
»Nein.« Hunter schüttelte den Kopf.
»Ich weiß, er hat Euren Bruder getötet«, sagte Sanson.
»Er hat ihn töten lassen, ja.«
»Und das erzürnt Euch nicht?«
Hunter seufzte. »Nicht mehr.«
Sanson blickte ihn im flackernden Feuerschein an. »Wie ist er gestorben?«
»Das ist nicht wichtig«, sagte Hunter ruhig.
Sanson saß einige Augenblicke still da. »Ich habe gehört«, sagte er, »Cazalla hat Euren Bruder auf einem Handelsschiff gefangen genommen. Ich habe gehört, er hat ihn an den Armen aufgehängt, ihm die Hoden abgeschnitten und sie ihm in den Mund gesteckt, bis er daran erstickt ist.«
Hunter antwortete eine Weile nicht. »So erzählt man sich«, sagte er schließlich.
»Und glaubt Ihr die Geschichte?«
»Ja.«
Sanson musterte sein Gesicht. »Die listigen Engländer. Wo ist Euer Zorn, Hunter?«
»Er ist da«, sagte Hunter.
Sanson nickte. Er stand auf. »Wenn Ihr Cazalla findet, tötet ihn rasch. Lasst Euch nicht den Verstand durch diesen Hass vernebeln.«
»Mein Verstand ist nicht vernebelt.«
»Nein. Das sehe ich.«
Sanson ging. Hunter blieb sitzen und starrte noch lange ins Feuer.
Am nächsten Morgen durchfuhren sie die gefährliche Windward-Passage zwischen Kuba und Hispaniola. Die Winde waren unberechenbar, und das Meer war stürmisch, doch die Cassandra kam ausgezeichnet voran. Irgendwann in der Nacht passierten sie die dunkle Landzunge von Le Mole – die westliche Spitze von Hispaniola – auf Steuerbord. Und kurz vor Tagesanbruch teilte sich das Relief des Landes und die Insel Tortuga kam in Sicht, dicht vor der Nordküste. Sie fuhren weiter.
Jetzt befanden sie sich den ganzen fünften Tag auf dem offenen Wasser, doch das Wetter war gut, und es herrschte nur leichter Wellengang. Am späten Nachmittag sichteten sie backbords die Insel Inagua, und kurz darauf erspähte Lazue direkt vor ihnen den Schatten am Horizont, der Les Caїques bedeutete. Das war wichtig, denn südlich von Les Caїques gab es über etliche Meilen tückische Untiefen.
Hunter befahl, nach Osten abzudrehen, in Richtung der Turksinseln, die noch nicht zu sehen waren. Das Wetter blieb gut. Die Besatzung sang und döste in der Sonne.
Die Sonne stand schon tief am Himmel, als Lazue die schlafende Mannschaft mit dem Ruf »Segel in Sicht!« aufschreckte.
Hunter sprang auf die Beine. Er suchte mit zusammengekniffenen Augen den Horizont ab, konnte aber nichts entdecken. Enders, der Meereskünstler, hatte das Fernrohr am Auge und schwenkte es in alle Richtungen. »Verflucht«, sagte er und reichte Hunter das Fernrohr. »Genau querab, Captain.«