Mit diesen Worten schritt er davon zum Heckkastell. Hunter wurde gefesselt und mit den anderen nach unten gebracht.
Das spanische Kriegsschiff hatte fünf Decks. Die oberen zwei waren Kanonendecks, wo auch ein Teil der Besatzung in Hängematten zwischen den Kanonen schlief. Als Nächstes kamen die Quartiere für die Soldaten. Das vierte Decke diente als Lagerraum für Munition, Nahrungsmittel, Flaschenzüge, Taue, Vorräte und lebendes Vieh. Das fünfte und unterste Deck verdiente kaum die Bezeichnung Deck: Der Abstand vom Boden bis zu den dicken Deckenbalken betrug höchstens vier Fuß, und weil dieses Deck unter der Wasserlinie lag, konnte es auch nicht belüftet werden. Die stickige Luft stank nach Kot und Bilgewasser.
Dorthin wurde die Besatzung der Cassandra gebracht. Die Männer mussten sich mit ein wenig Abstand zueinander auf den rauen Boden setzen. Zwanzig Soldaten bezogen in den Ecken des Raumes Wache, und von Zeit zu Zeit ging einer mit einer Laterne herum und überprüfte die Fesseln von jedem einzelnen Mann.
Reden war ebenso wenig erlaubt wie schlafen, und wer dagegen verstieß, handelte sich einen bösen Tritt mit einem Soldatenstiefel ein. Die Männer durften sich nicht bewegen, und wer sich erleichtern musste, tat das, wo er saß. Bei sechzig Gefangenen und zwanzig Wachen wurde es in dem niedrigen, ungelüfteten Raum bald erstickend heiß, und es stank fürchterlich. Sogar die Wachen waren in Schweiß gebadet.
Irgendwann ging das Zeitgefühl verloren. Die einzigen Geräusche waren die schweren, rumpelnden Bewegungen des Viehs auf dem Deck über ihnen und das unaufhörliche, eintönige Zischen des durchs Wasser pflügenden Kriegsschiffs. Hunter saß in der Ecke, lauschte dem Geräusch des Wassers, wartete darauf, dass es aufhörte. Er versuchte, die nackte Hoffnungslosigkeit seiner Lage auszublenden – er und seine Leute waren tief im Bauch eines gewaltigen Kriegsschiffs vergraben, umringt von Hunderten feindlichen Soldaten, denen sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Falls Cazalla nicht irgendwo die Nacht über vor Anker ging, waren sie alle verloren. Hunters einzige Chance hing davon ab, dass das Kriegsschiff über Nacht haltmachte.
Die Zeit verging: Er wartete.
Endlich bemerkte er eine Veränderung im Rauschen des Wassers, und auch das Knarzen der Takelage klang anders. Er setzte sich auf, lauschte angestrengt. Kein Zweifel – das Schiff wurde langsamer.
Die Soldaten, die zusammenhockten und sich leise unterhielten, wechselten ein paar Worte darüber. Einen Augenblick später erstarb das Geräusch des Wassers gänzlich, und Hunter hörte das Rasseln der Ankerkette. Der Anker platschte laut. Irgendwo im Hinterkopf merkte Hunter sich, dass er in der Nähe des Bugs sein musste. Ansonsten wäre das Geräusch nicht so deutlich gewesen.
Noch mehr Zeit verging. Das Schiff schaukelte sachte auf den Wellen. Sie mussten in einer geschützten Bucht vor Anker gegangen sein, denn das Wasser war merklich ruhig. Das Schiff hatte großen Tiefgang, und Cazalla würde damit nachts nicht in einen Hafen fahren, den er nicht gut kannte.
Er fragte sich, wo sie waren, und hoffte auf eine Bucht nicht weit von den Turksinseln. Dort fanden sich leewärts etliche Buchten, die für ein Schiff dieser Größe tief genug waren.
Das Schaukeln des Kriegsschiffs vor Anker war beruhigend. Mehr als einmal spürte er, wie er eindöste. Die Soldaten beschäftigten sich damit, den Seeleuten Tritte zu versetzen, um sie wach zu halten. Im dumpfen Halbdunkel des Unterdecks ertönte immer wieder das Knurren und Ächzen von Seeleuten, wenn sie getreten wurden.
Hunter fragte sich, wie es um seinen Plan stand. Was ging da oben vor?
Nachdem wieder lange Zeit vergangen war, kam ein spanischer Soldat nach unten und bellte: »Alle Mann aufstehen! Befehl von Cazalla! Alle aufstehen!« Angetrieben von den Stiefeln der Soldaten, kamen die Seeleute nacheinander auf die Beine und standen geduckt in dem niedrigen Deck. Es war eine schmerzhafte, qualvoll unbequeme Haltung.
Wieder verging Zeit. Die Wachen wurden ausgewechselt. Die neuen Soldaten hielten sich die Nase zu, als sie hereinkamen, und witzelten über den Gestank. Hunter blickte sie verwundert an. Er nahm schon längst keinen Geruch mehr wahr.
Die neuen Wachen waren jünger und nahmen es mit ihren Pflichten nicht ganz so genau. Offenbar waren die Spanier überzeugt, dass von den Piraten keine Gefahr mehr ausging. Kaum hatten sie sich hingehockt, holten sie ein Kartenspiel hervor. Hunter blickte weg und sah zu, wie sein Schweiß auf den Boden tropfte. Er dachte an den armen Trencher, spürte aber weder Zorn noch Entrüstung, ja nicht einmal Angst. Er war gefühllos.
Ein neuer Soldat kam herein. Er war eine Art Offizier und anscheinend missfiel ihm die nachlässige Haltung der jungen Männer. Er bellte scharfe Befehle, und die Männer legten hastig die Karten beiseite.
Der neue Offizier ging durch den Raum und studierte die Gesichter der Freibeuter. Schließlich suchte er einen aus der Gruppe aus und führte ihn weg. Der Mann brach nach wenigen Schritten auf wackeligen Beinen zusammen, worauf die Soldaten ihn packten und aus dem Raum schleiften.
Die Tür schloss sich. Die Wachen legten für kurze Zeit geflissentliche Aufmerksamkeit an den Tag und entspannten sich dann wieder. Aber sie spielten nicht weiter Karten. Nach einer Weile kamen zwei von ihnen auf die Idee, um die Wette zu urinieren, um zu sehen, wer es am weitesten schaffte. Ziel war ein Seemann in der Ecke. Das Spiel kam bei den Wachen gut an, denn sie lachten und setzten zum Spaß gewaltige Summen Geldes auf den Sieger.
Hunter nahm das Geschehen nur undeutlich wahr. Er war hundemüde; seine Beine schmerzten von der Anstrengung, und der Rücken tat ihm weh. Er fragte sich allmählich, warum er sich geweigert hatte, Cazalla das Ziel der Reise zu verraten. Sein Verhalten kam ihm auf einmal sinnlos vor.
In diesem Augenblick wurde Hunter aus seinen Gedanken gerissen, als ein anderer Offizier erschien, der »Captain Hunter!« brüllte. Sogleich wurde Hunter aus dem Raum geführt.
Während er durch die Decks mit schlafenden Seeleuten, die in ihren Hängematten schaukelten, gestoßen und geschubst wurde, hörte er von irgendwo im Schiff deutlich ein merkwürdiges und klagendes Geräusch.
Es war das Weinen einer Frau.
KAPITEL 17
Hunter kam nicht dazu, länger über die Bedeutung des seltsamen Geräusches nachzudenken, denn er wurde hastig aufs Hauptdeck gestoßen. Dort, unter den Sternen und den gerefften Segeln, sah er, dass der Mond niedrig stand – bis Tagesanbruch konnten es also nur noch wenige Stunden sein.
Jähe Verzweiflung erfasste ihn.
»Engländer: Kommt her!«
Hunter wandte den Kopf und sah Cazalla nicht weit vom Hauptmast stehen, mitten in einem Ring aus Fackeln. Zu seinen Füßen lag der Seemann, der kurz zuvor aus dem Raum geholt worden war, mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem Rücken, fest ans Deck gebunden. Eine Reihe von spanischen Soldaten stand herum und grinste breit.
Cazalla selbst wirkte äußerst aufgeregt; er atmete schnell und flach. Hunter bemerkte, dass er wieder ein Kokablatt kaute.
»Engländer, Engländer«, sagte er hastig. »Ihr kommt gerade rechtzeitig, um Zeuge unseres kleinen Spaßes zu werden. Wisst Ihr, dass wir Euer Schiff durchsucht haben? Nein? Na, das haben wir, und wir haben viele interessante Dinge gefunden.«
Oh Gott, dachte Hunter. Nein …
»Ihr habt sehr viel Seil, Engländer, und Ihr habt eigentümliche Eisenhaken, die sich zusammenklappen lassen, und Ihr habt auch seltsame Dinge aus Leinen, wofür wir ebenfalls keine Erklärung haben. Aber was wir uns vor allem nicht erklären können, Engländer, ist das hier.«
Hunters Herz klopfte wie wild: Wenn sie die grenadoes gefunden hatten, dann war alles aus.
Aber Cazalla hielt einen Käfig mit vier Ratten hoch. Die Ratten huschten hin und her und fiepsten nervös.