»Könnt Ihr Euch vorstellen, wie erstaunt wir darüber waren, dass Ihr Ratten mit an Bord genommen habt? Wir haben uns gefragt, warum macht er das? Warum nimmt der Engländer Ratten mit nach Augustine? Augustine hat eigene Ratten, Floridaratten, sehr gute. Nicht wahr? Also frage ich mich, wie das zu erklären ist?«
Hunter sah, wie ein Soldat irgendetwas mit dem Gesicht des auf den Planken liegenden Seemanns machte. Zuerst konnte er nicht erkennen, was da genau geschah. Der Soldat rieb und strich an dem Gesicht des Mannes herum. Dann begriff Hunter: Dem Seemann wurde Käse aufs Gesicht geschmiert.
»Und dann«, sagte Cazalla und schwenkte den Käfig in der Luft, »muss ich feststellen, dass Ihr nicht gut zu Euren Freunden, den Ratten, seid. Sie haben Hunger. Deshalb sind sie so aufgeregt. Ich denke, wir sollten sie füttern, ja?«
Cazalla stellte den Käfig dicht neben das Gesicht des Seemanns. Die Ratten warfen sich gegen die Stäbe, versuchten, an den Käse zu gelangen.
»Seht Ihr, was ich meine, Engländer? Eure Ratten haben großen Hunger. Findet Ihr nicht auch, wir sollten sie füttern?«
Hunter starrte auf die Ratten und auf die panischen Augen des reglosen Seemanns.
»Ich frage mich, ob Euer Freund hier reden wird«, sagte Cazalla.
Der Seemann konnte die Augen nicht von den Ratten losreißen.
»Oder wollt Ihr vielleicht für ihn reden, Engländer?«
»Nein«, sagte Hunter müde.
Cazalla beugte sich über den Seemann und tippte ihm auf die Brust. »Und du, willst du reden?« Mit der anderen Hand berührte Cazalla den Riegel der Käfigtür.
Der Seemann starrte gebannt auf den Riegel, sah, wie Cazalla ihn ganz langsam zurückzog. Schließlich hielt er die Tür nur noch mit einem Finger zu.
»Eure letzte Chance, mein Freund …«
»Non!«, kreischte der Seemann. »Je parle! Je parle!«
»Gut«, sagte Cazalla und wechselte mühelos ins Französische.
»Matanceros«, sagte der Seemann.
Cazalla wurde bleich vor Wut. »Matanceros! Du Idiot, erwartest du, dass ich das glaube? Ein Angriff auf Matanceros!« Und prompt ließ er die Käfigtür los.
Der Seemann kreischte erbärmlich, als die Ratten ihm ins Gesicht sprangen. Er schüttelte heftig den Kopf, doch die vier pelzigen Körper klammerten sich fest an Wangen und Kopfhaut und Kinn. Die Ratten fauchten und fiepten. Eine wurde weggeschleudert, huschte aber unverzüglich wieder zurück über die keuchende Brust des Mannes und biss ihm in den Hals. Der Seemann brüllte vor Entsetzen, ein eintöniger, sich wiederholender Laut. Schließlich fiel der Mann in Ohnmacht und lag reglos da, während die Ratten fauchend weiter an seinem Gesicht nagten.
Cazalla richtete sich auf. »Wieso haltet Ihr mich alle für so dumm?«, sagte er. »Engländer, ich schwöre Euch. Ich werde das wahre Ziel Eurer Reise erfahren.«
Er wandte sich an die Wachen. »Bringt ihn runter.«
Hunter wurde von Deck geschafft. Als sie ihn die schmale Treppe hinunterstießen, konnte er einen kurzen Blick auf die Cassandra werfen, die einige Yards von dem Kriegsschiff entfernt vor Anker lag.
KAPITEL 18
Die Schaluppe Cassandra war ein überwiegend offenes Schiff, mit einem einzigen Hauptdeck, das den Elementen schutzlos ausgesetzt war, und kleinen Stauräumen an den Längsseiten. Diese waren von den Soldaten und der Prisenbesatzung am Nachmittag durchsucht worden, als sie das Schiff übernahmen. Die Männer hatten sämtliche Vorräte und die besondere Ausrüstung gefunden, die Cazalla so verwirrt hatte.
Soldaten hatten das Schiff gründlich auf den Kopf gestellt. Sie hatten sogar in die vordere und hintere Luke gespäht, die in die Bilge führten. Im Schein ihrer Laternen sahen sie, dass das Bilgewasser dort fast bis unter die Deckplanken stand, und sie machten höhnische Bemerkungen über die Piraten, die zu faul waren, die Bilge zu leeren.
Nachdem die Cassandra in die geschützte Bucht eingelaufen war und im Schatten des Kriegsschiffes den Anker geworfen hatte, vergingen noch etliche Stunden, in denen die zehn Männer der Prisenbesatzung bei Fackellicht tranken und lachten. Schließlich, in den frühen Morgenstunden, waren sie auf Wolldecken liegend in der warmen Nachtluft an Deck in einen tiefen, rumseligen Schlaf gesunken. Sie hatten zwar Befehl, eine Wache aufzustellen, doch sie scherten sich nicht drum. Das in der Nähe liegende Kriegsschiff bot Schutz genug.
So kam es, dass keiner an Deck das leise Plätschern aus dem Bilgeraum vernahm, wo ein Mann mit einem Schilfrohr im Mund aus dem öligen, stinkenden Wasser auftauchte.
Sanson, der vor Kälte zitterte, hatte stundenlang mit dem Kopf neben dem Öltuchsack gelegen, der die kostbaren grenadoes enthielt. Weder er noch der Sack war entdeckt worden. Jetzt konnte er so gerade das Kinn aus dem Bilgewasser heben, ehe er sich den Kopf an den Deckplanken stieß. Um ihn herum war es stockdunkel, und er hatte nicht die geringste Orientierung. Mit Händen und Füßen drückte er den Rücken gegen den Rumpf und spürte dessen Krümmung. Er war auf der Backbordseite, so schloss er, und schob sich langsam und lautlos auf die Mitte zu. Von dort manövrierte er sich ganz vorsichtig zum Heck, bis er mit dem Kopf sacht gegen die rechteckige Vertiefung der Hecklukenklappe stieß. Als er hochblickte, sah er durch das Gitter der Klappe dünne Lichtstrahlen. Sterne am Himmel. Alles still, bis auf einen schnarchenden Seemann.
Er holte tief Luft und hob den Kopf. Die Klappe bewegte sich ein paar Zentimeter nach oben. Er konnte das Deck sehen. Und er blickte direkt in das Gesicht eines schlafenden Seemanns, höchstens einen Fuß entfernt. Der Mann schnarchte laut.
Sanson senkte die Lukenklappe wieder und machte sich auf den langen Weg zum anderen Ende des Bilgeraumes. Er brauchte fast eine Viertelstunde, um sich auf dem Rücken liegend mit den Händen die fünfzig Fuß bis zur vorderen Luke der Cassandra zu schieben. Dort hob er die Lukenklappe und spähte hinaus. Der nächste schlafende Seemann lag wenigstens zehn Fuß entfernt.
Ganz langsam und lautlos nahm Sanson die Lukenklappe heraus und legte sie aufs Deck. Er hievte sich aus dem Wasser und blieb kurz stehen, um die frische Nachtluft einzuatmen. Durchnässt wie er war, fror er in dem leichten Wind, doch er achtete nicht darauf. Sein ganzer Verstand richtete sich allein auf die an Deck schlafende Prisenbesatzung.
Sanson zählte zehn Männer. Das müssten alle sein, dachte er. Notfalls reichten drei Männer, um die Cassandra zu segeln, fünf kämen bequem mit ihr klar; zehn Männer wären mehr als genug.
Er sah sich genau an, wo und wie die Männer an Deck lagen, und überlegte, in welcher Reihenfolge er sie am besten töten sollte. Es war leicht, einen Mann leise zu töten, aber absolut lautlos zu töten, war nicht so einfach. Von den zehn Männern waren die ersten vier oder fünf entscheidend, denn wenn einer von ihnen einen Laut von sich gab, könnten alle anderen wach werden.
Sanson nahm die dünne Kordel ab, die ihm als Gürtel diente. Er wickelte sie um die Hände und zog sie zwischen den Fäusten straff. Zufrieden mit der Stärke der Schnur, griff er sich einen Belegnagel aus geschnitztem Hartholz und schritt zur Tat.
Der erste Soldat schnarchte nicht. Als Sanson den Mann in eine sitzende Haltung anhob, grummelte der nur kurz im Schlaf über die Störung, ehe Sanson ihm mit dem Belegnagel auf den Kopf schlug. Der Schlag war heftig, erzeugte aber nur ein dumpfes Geräusch, als er auf den Schädel traf. Sanson legte den Seemann vorsichtig wieder aufs Deck.
Im Dunkeln fuhr er mit den Händen über den Schädel. Er fühlte eine tiefe Mulde. Der Schlag hatte ihn vermutlich getötet, doch er wollte kein Risiko eingehen. Er schlang dem Mann die Kordel um den Hals und zog sie fest zu. Gleichzeitig legte er ihm die andere Hand flach auf die Brust, um den Herzschlag zu spüren. Eine Minute später hörte das Pochen auf.