Sanson kam zu ihm und beugte sich an sein Ohr. »Ihr seid wahnsinnig«, brüllte er. »Das überlebt keiner von uns.«
»Angst?«, rief Hunter zurück.
»Ich habe vor nichts Angst«, sagte Sanson und schlug sich auf die Brust. »Aber seht Euch die anderen an.«
Hunter wandte den Kopf. Lazue zitterte. Don Diego war auffällig blass.
»Die schaffen das nicht«, rief Sanson. »Was wollt Ihr ohne sie machen?«
»Sie werden es schaffen«, erwiderte Hunter. »Sie müssen es schaffen.« Er blickte kurz in Richtung des aufziehenden Unwetters, das immer näher kam und nur noch ein oder zwei Meilen entfernt war. Der Wind fühlte sich schon deutlich feucht an. Plötzlich spürte er, wie an dem Seil in seinen Händen gezogen wurde, dann folgte ein zweiter kurzer Ruck.
»Er ist oben«, sagte Hunter. Er blickte hoch, konnte den Mauren aber nicht mehr sehen.
Einen Augenblick später fiel ein zweites Seil herab.
»Schnell«, sagte Hunter. »Die Ausrüstung.« Sie banden die Segeltuchbeutel mit allem, was sie dabeihatten, an das Seil, dann zogen sie kurz daran, um dem Mauren das Zeichen zu geben. Die Beutel begannen ihren stockenden, holprigen Aufstieg entlang der Felswand. Ein ums andere Mal wehte die Kraft des Windes sie fünf oder zehn Fuß vom Felsen weg.
»Allmächtiger«, sagte Sanson, als er das sah.
Hunter schaute zu Lazue hinüber. Ihr Gesicht war angespannt. Er ging zu ihr und legte ihr die Segeltuchschlinge um Schulter und Hüften.
»Barmherzige Mutter Gottes, barmherzige Mutter Gottes, barmherzige Mutter Gottes«, sagte Lazue immer wieder tonlos vor sich hin.
»Jetzt hör mir zu«, schrie Hunter, als das Seil wieder herunterkam. »Halt dich an der langen Leine fest und lass dich einfach von Bassa hochziehen. Sieh immer nur den Felsen an, schau nicht nach unten.«
»Barmherzige Mutter Gottes, barmherzige Mutter Gottes …«
»Hast du verstanden?«, schrie Hunter. »Nicht nach unten schauen!«
Sie nickte, bewegte aber weiter die Lippen. Gleich darauf wurde sie von der Schlinge am Felsen hochgezogen. Im ersten Moment geriet sie ins Kreiseln und grapschte unbeholfen nach dem anderen Seil. Dann konnte sie ihre Position stabilisieren und gelangte ohne Zwischenfall nach oben.
Der Jude war als Nächster dran. Er starrte Hunter mit leeren Augen an, während der ihn unterwies, schien ihn aber gar nicht zu hören. Er wirkte wie in Trance, als er sich die Schlinge umlegte und hochgezogen wurde.
Die ersten Regentropfen des nahenden Unwetters fielen. »Ihr geht als Nächster«, rief Sanson.
»Nein«, sagte Hunter. »Ich geh als Letzter.«
Jetzt begann es richtig zu regnen. Der Wind hatte zugenommen. Als die Schlinge wieder die Wand herunterkam, war das Segeltuch durchtränkt. Sanson stieg in die Schlinge und ruckte an dem Seil, das Signal für den Aufstieg. Als er langsam hochgezogen wurde, rief er Hunter zu: »Wenn Ihr das hier nicht überlebt, kriege ich Eure Anteile.« Und dann lachte er, bis sein Lachen im Wind verklang.
Gemeinsam mit dem Unwetter waren graue Wolken aufgekommen, die nun hoch oben an der Felswand klebten. Von Sanson war bald nichts mehr zu sehen. Hunter wartete. Es schien endlos lange zu dauern, doch dann hörte er ein nasses Klatschen, mit dem die Schlinge ein Stück neben ihm aufschlug. Er ging hin und legte sie sich an. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht und er war völlig durchnässt, als er an der Leine zog und sogleich vom Boden gehoben wurde.
Diesen Aufstieg würde er sein Lebtag nicht mehr vergessen. Er hatte keinerlei Orientierung, weil er in eine dunkelgraue Welt eingehüllt war. Das Einzige, was er sehen konnte, war die Felswand nur wenige Zoll von ihm entfernt. Der Wind zerrte an ihm, riss ihn häufig weit von der Klippe weg und schleuderte ihn dann wieder hart dagegen. Die Seile, der Felsen, alles war nass und glitschig. Er hielt das Führungsseil mit beiden Händen und versuchte, der Klippe zugewandt zu bleiben. Doch immer wieder verlor er den Halt, geriet ins Kreiseln und prallte hart mit Rücken und Schultern gegen den Felsen.
Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Er hatte keine Ahnung, ob er schon über die Hälfte geschafft hatte oder erst ein kleines Stück. Oder ob er fast oben war. Angestrengt lauschte er auf die Stimmen der anderen oben am Klippenrand, doch er hörte bloß das wahnsinnige Kreischen des Windes und das Prasseln des Regens.
Er spürte die Vibration des Seils, an dem er hing. Es war ein stetiges, rhythmisches Beben. Er wurde ein paar Fuß hochgehievt, dann stockte das Seil, um ihn wieder ein paar Fuß weiter zu ziehen. Dann erneut eine Pause, dann wieder ein kurzer Aufstieg.
Plötzlich wurde das Muster durchbrochen. Es ging nicht höher. Die Seilvibration veränderte sich, wurde durch die Segeltuchschlinge auf seinen Körper übertragen. Zunächst dachte er an eine Sinnestäuschung, doch dann begriff er, was los war – das Hanfseil, das nun zum vierten Mal unsanft über den Felsen gezogen wurde, franste aus und dehnte sich langsam und quälend.
Vor seinem geistigen Auge sah er, wie es dünner wurde, und sofort packte er das Führungsseil fester. Im selben Augenblick riss das Tragseil und fiel ihm in schweren nassen Windungen auf Kopf und Schultern.
Seine Hände am Führungsseil verloren ein wenig den Halt, und er rutschte ein paar Fuß ab – wie tief, wusste er nicht genau. Dann versuchte er, seine Situation nüchtern einzuschätzen. Er hing bäuchlings an die Felswand gedrückt, und die nasse Schlinge um die Beine zog wie ein totes Gewicht an ihm, wodurch seine ohnehin schon schmerzenden Arme noch mehr beansprucht wurden. Er strampelte mit den Beinen, um die Schlinge abzuschütteln, konnte sich aber nicht aus ihr befreien. Es war entsetzlich: Durch die Schlinge war er regelrecht gefesselt. Er konnte die Füße nicht einsetzen, um an der Felswand Halt zu finden, und ihm war klar, dass er einfach so dahängen würde, bis er sich vor Erschöpfung nicht länger halten konnte und abstürzte. Schon jetzt spürte er einen brennenden Schmerz in Handgelenken und Fingern. Das Führungsseil ruckte leicht. Doch sie zogen ihn nicht hoch.
Er begann wieder zu strampeln, mit der Kraft der Verzweiflung, und plötzlich riss ihn eine Böe von der Klippe weg. Die verfluchte Schlinge wirkte wie ein Segel, fing den Wind ein und zog ihn mit. Er sah, wie die Felswand im Nebel verschwand, als er zehn, zwanzig Fuß von der Klippe weggeweht wurde.
Er strampelte erneut, und auf einmal war er leichter – die Schlinge war abgefallen. Sein Körper schwang zurück auf die Klippe zu. Er wappnete sich gegen den Aufprall, der prompt kam und ihm den Atem raubte. Unwillkürlich schrie er auf und hing dann einfach nur da, versuchte, Luft in die Lunge zu saugen.
Endlich zog er sich mit einer letzten ungeheuren Kraftanstrengung hoch, bis seine Hände, die das Seil umklammerten, fest an seine Brust gepresst waren. Er schlang die Beine einen Augenblick lang um das Seil, damit seine Arme sich erholen konnten. Allmählich bekam er wieder Luft. Er stützte die Füße an den Felsen und hangelte sich am Seil hoch. Seine Füße rutschten ab und er knallte mit den Knien gegen den Felsen. Aber er hatte es ein ganzes Stück höher geschafft.
Er hangelte sich weiter und weiter. Sein Verstand hatte ausgesetzt; sein Körper machte alles von selbst, aus eigenem Antrieb. Die Welt rings um ihn wurde lautlos, kein prasselnder Regen, kein kreischender Wind, nichts, nicht einmal sein eigener keuchender Atem. Die Welt war grau, und er war in diesem Grau verloren.
Er merkte es nicht einmal, als kräftige Hände unter seine Schultern fassten und er hochgezogen wurde und mit dem Bauch auf dem flachen Felsen landete. Er hörte keine Stimmen. Er sah nichts. Später erzählten sie ihm, dass sein Körper, nachdem sie ihn auf den Boden gelegt hatten, weitergekrochen war, hoch und wieder runter, hoch und wieder runter, das blutende Gesicht an den Felsen gepresst, bis sie ihn mit Gewalt festhielten. Doch in diesem Augenblick wusste er gar nichts. Er wusste nicht einmal, dass er überlebt hatte. Er erwachte bei hellem Vogelgezwitscher, öffnete die Augen und sah grüne Blätter im Sonnenschein. Er lag ganz still, nur seine Augen bewegten sich. Er sah eine Felswand. Er war in einer Höhle, nah an der Öffnung einer Höhle. Er roch gebratenes Fleisch, einen unbeschreiblich köstlichen Duft, und er wollte sich aufsetzen.