»Das geht nicht wegen des Mondes«, sagte Hunter düster. »Es ist ein Dreiviertelmond, der erst gegen Mitternacht aufgehen wird. Aber das genügt, um uns zu verfolgen – wir haben also nur vier Stunden völlige Dunkelheit. In einer so kurzen Zeit können wir das Schiff nicht abschütteln.«
»Was habt Ihr dann vor?«
Hunter nahm das Fernrohr und suchte den Horizont ab. Das Verfolgerschiff holte langsam auf.
»Wir fahren nach Monkey Bay. Gegen die Sonne.«
»Klar zum Wenden!«, rief Enders, und das Schiff drehte sich in den Wind, änderte langsam und schwerfällig den Kurs. Es dauerte eine volle Viertelstunde, ehe sie wieder das Wasser durchpflügten, und in der Zwischenzeit waren die Segel des Verfolgerschiffs deutlich größer geworden.
Während Hunter durchs Fernrohr spähte, kamen ihm die Segel in der Ferne plötzlich bedrückend bekannt vor. »Das wird doch wohl nicht …«
»Was, Sir?«
»Lazue!«, rief Hunter und zeigte zum Horizont.
Auf ihrem Ausguck hob Lazue das Fernrohr ans Auge.
»Erkennst du das Schiff?«
Sie rief nach unten: »Es ist unser alter Freund.«
Enders stöhnte auf. »Cazallas Kriegsschiff? Das schwarze Schiff?«
»Genau das.«
»Wer befehligt es jetzt?«, fragte Enders.
»Bosquet, der Franzmann«, sagte Hunter. Er erinnerte sich an den schlanken, beherrschten Mann, den er in Matanceros gesehen hatte, wie er an Bord des Schiffes ging.
»Von dem hab ich gehört«, sagte Enders. »Solider und tüchtiger Seemann, der versteht sein Metier.« Er seufzte. »Jammerschade, dass kein Spanier das Kommando hat, dann hätten wir vielleicht mehr Glück.« Die Spanier waren als schlechte Seefahrer verschrien.
»Wie lange noch bis zur Bucht?«
»Eine volle Stunde«, sagte Enders, »vielleicht mehr. Wenn die Einfahrt eng ist, müssen wir die Segelfläche verkleinern.«
Das würde sie noch mehr verlangsamen, aber es war nicht zu ändern. Wenn sie das Schiff sicher durch eine Engstelle steuern wollten, würden sie die Segel reffen müssen.
Hunter blickte zurück auf das Verfolgerschiff. Es änderte jetzt den Kurs, und seine Segel neigten sich, als es sich leewärts drehte. Es fiel leicht zurück, hatte aber schon bald wieder volle Fahrt aufgenommen.
»Das wird verdammt knapp«, sagte er.
»Aye«, sagte Enders.
Oben in der Takelage hob Lazue den linken Arm. Enders behielt sie im Auge, während er den Kurs änderte, bis sie den Arm senkte. Dann steuerte er wieder geradeaus. Kurze Zeit später hielt sie den rechten Arm halb gebeugt hoch.
Und Enders korrigierte den Kurs, indem er leicht nach steuerbord drehte.
TEIL IV
MONKEY BAY
KAPITEL 27
Die El Trinidad steuerte auf Monkey Bay zu.
An Bord der Cassandra sah Sanson das größere Schiff manövrieren. »Heiliger Strohsack, die nehmen Kurs auf Land«, sagte er. »Gegen die Sonne!«
»Das ist Wahnsinn«, stöhnte der Mann am Ruder.
»Jetzt hör gut zu«, sagte Sanson und wirbelte zu ihm herum. »Dreh bei und häng dich ins Kielwasser von diesem spanischen Ungetüm und dann folge ihm haargenau. Und ich meine wirklich haargenau. Sonst schneid ich dir die Kehle durch.«
»Wie können die das machen, gegen die Sonne?«, stöhnte der Steuermann.
»Sie haben Lazues Augen«, sagte Sanson. »Das könnte genügen.«
Lazue hielt vorsichtig Ausschau. Ebenso vorsichtig war sie mit ihren Armbewegungen, denn selbst die nachlässigste Geste würde eine Kursänderung bewirken. In diesem Augenblick schaute sie westwärts, hielt die linke Hand flach unter die Nase, um den Widerschein der Sonne vom Wasser unmittelbar vor dem Bug abzuschirmen. Sie richtete den Blick ausschließlich auf das Land – auf die grünen Hügel von Cat Island, die sie jetzt nur als flache Silhouette sah, ohne Tiefe.
Sie wusste, irgendwo weiter vorn, wenn sie näher dran waren, würden die Umrisse der Insel sich genauer abzeichnen, deutlicher werden, und sie würde die Einfahrt zur Monkey Bay sehen. Bis dahin war es ihre Aufgabe, das Schiff auf dem schnellsten Kurs zu dem Punkt zu dirigieren, wo sie die Einfahrt vermutete.
Die Höhe ihres Ausgucks war eine Hilfe; von dort oben aus konnte sie die Farbe des Wassers viele Meilen entfernt sehen, das verschlungene Muster aus unterschiedlich kräftigen Blau-und Grüntönen. Im Kopf nahm sie sie als Wassertiefen wahr, und sie konnte sie lesen wie eine Seekarte mit Tiefenangaben.
Das war eine beachtliche Fähigkeit. Der gewöhnliche Seemann, der wusste, wie klar das karibische Wasser war, ging gemeinhin davon aus, tiefblau als tiefes Wasser zu deuten, und grün als noch tieferes. Lazue wusste es besser: Wenn der Meeresgrund sandig war, sah das Wasser womöglich hellblau aus, obwohl es fünfzig Fuß tief war. Oder eine tiefgrüne Farbe konnte einen mit Seegras bewachsenen Grund in nur zehn Fuß Tiefe bedeuten. Und der veränderte Sonnenstand im Laufe des Tages spielte einem auch seltsame Streiche. Am frühen Morgen oder am späten Nachmittag waren alle Farben satter und dunkler, und auch das galt es zu berücksichtigen.
Doch im Augenblick kümmerte sie die Wassertiefe noch nicht. Sie suchte die Farben an der Küstenlinie nach irgendeinem Hinweis auf die Einfahrt zur Monkey Bay ab. Ihrer Erinnerung nach mündete ein kleiner Süßwasserfluss in die Monkey Bay, wie das bei den meisten Buchten der Fall war. Viele andere karibische Buchten waren nicht sicher für große Schiffe, weil es in den Korallenriffen vor der Küste keine Lücke gab. Eine Lücke gab es nur in Buchten mit Süßwasserzufluss, denn wo Süßwasser war, konnten keine Korallen gedeihen.
Lazue ließ den Blick über das Wasser nahe der Küste schweifen. Sie wusste, dass die Lücke sich nicht unbedingt in der Nähe der Flussmündung selbst befinden musste. Je nach Strömung, die das Süßwasser hinaus ins Meer trug, konnte sich die eigentliche Öffnung im Riff eine Viertelmeile nördlich oder südlich befinden. Zu erkennen war sie oftmals an einer durch die Strömungen verursachten bräunlichen Trübung im Wasser und der Veränderung an der Wasseroberfläche.
Sorgfältig suchte sie das Wasser ab und schließlich wurde sie fündig, südlich vom gegenwärtigen Kurs des Schiffes. Sie signalisierte die Berichtigung nach unten zu Enders. Als die El Trinidad sich der Stelle näherte, war Lazue froh, dass der Meereskünstler keine Ahnung hatte, auf was er da zusteuerte. Er würde in Ohnmacht fallen, wenn er wüsste, wie schmal die Lücke im Riff wirklich war. Auf beiden Seiten ragten die Korallenköpfe bis knapp unter die Wasseroberfläche, und die Öffnung dazwischen war höchstens zwölf Yards breit.
Zufrieden mit dem neuen Kurs schloss Lazue für einige Minuten die Augen. Sie nahm die rosa Farbe des Sonnenlichts auf ihren Lidern wahr, aber nicht die Bewegung des Schiffes oder den Wind in den Segeln oder die Gerüche des Ozeans. Ihre Wahrnehmung war gänzlich auf ihre Augen gerichtet, während sie ihnen eine Erholungsphase gönnte. Nur ihre Augen waren wichtig, nichts anderes. Sie atmete tief und langsam, bereitete sich auf die bevorstehende Anstrengung vor, sammelte Energie, bündelte ihre Sinne.
Sie wusste, was auf sie zukam. Sie kannte die unausweichliche Entwicklung – ein leichter Anfang und dann der erste Schmerz in den Augen, der unaufhaltsam zunahm, dann Tränen, ein Stechen, Brennen. Am Ende würde sie völlig erschöpft sein, ihr ganzer Körper ermattet. Sie würde Schlaf brauchen, als wäre sie eine Woche wach gewesen, und wahrscheinlich würde sie zusammenklappen, sobald sie wieder hinunter aufs Deck geklettert war.