Auf diese bevorstehende gewaltige Erschöpfung bereitete sie sich jetzt vor, indem sie tiefe, langsame Atemzüge nahm und die Augen geschlossen hielt.
Für Enders am Ruder gestaltete sich die Bündelung seiner Sinne ganz anders. Er hatte die Augen geöffnet, interessierte sich aber nur wenig für das, was er sah. Enders spürte das Steuer in den Händen, den Druck, den es auf die Handflächen ausübte, die Neigung des Decks unter den Füßen, das Rauschen des Wassers am Rumpf, den Wind auf den Wangen, das Beben der Takelage, das Zusammenspiel sämtlicher Kräfte und Belastungen, die über die Lage des Schiffes im Wasser bestimmten. Ja, in diesem Zustand vollkommener Konzentration wurde Enders ein Teil des Schiffes, verschmolz fast körperlich mit ihm. Er war der Verstand, das Schiff der Körper, und er wusste haargenau, in welcher Verfassung es sich befand.
Er wusste bis auf den Bruchteil eines Knotens, wie schnell das Schiff war; er spürte, wenn eines der Segel falsch stand; er wusste, wenn sich im Schiffsbauch Ladung verschob und er wusste auch wo; er spürte, wie viel Wasser in der Bilge war; er wusste, wann das Schiff leicht dahinsegelte, wann es alle seine Möglichkeiten ausschöpfte; er wusste, wann es an seine Grenzen kam und wie lange es so durchhalten würde und was er noch aus ihm herausholen konnte.
All das hätte er mit geschlossenen Augen aufzählen können. Er hätte nicht sagen können, woher er es wusste, nur dass er es wusste. Jetzt, während er mit Lazue zusammenarbeitete, war er verunsichert, eben weil er einen Teil seiner Kontrolle abgeben musste, denn Lazues Handzeichen für ihn waren nichts, was er unmittelbar spüren konnte. Trotzdem befolgte er ihre Anweisungen blind, wusste er doch, dass er ihr vertrauen musste. Aber nervös machte es ihn trotzdem. Er schwitzte am Ruder, sodass er den Wind stärker auf den feuchten Wangen spürte, und jedes Mal wenn Lazue die Arme ausstreckte, korrigierte er folgsam den Kurs.
Sie dirigierte das Schiff nach Süden. Sie muss die Bresche im Riff entdeckt haben, dachte er, und hält jetzt darauf zu. Bald würden sie die Lücke durchfahren. Schon allein bei dem Gedanken daran brach ihm erneut der Schweiß aus allen Poren.
Hunter hatte derweil ganz andere Sorgen. Er hastete zwischen Bug und Heck hin und her, ohne auf Lazue und Enders zu achten. Das spanische Kriegsschiff kam von Minute zu Minute näher. Der obere Rand des Hauptsegels war jetzt deutlich unterhalb des Horizonts. Es fuhr nach wie vor unter vollen Segeln, wohingegen die El Trinidad, jetzt nur noch eine Meile von der Insel entfernt, einen Großteil ihrer Segel eingeholt hatte.
Unterdessen hatte sich die Cassandra hinter das größere Schiff zurückfallen lassen und folgte ihm in einigem Abstand auf backbord, um sich den Kurs zur Bucht zeigen zu lassen. Das Manöver war notwendig, doch Hunters Segel nahmen der Cassandra einigen Wind, wodurch das kleine Schiff nicht genügend Fahrt machte. Das würde sich erst ändern, wenn sie genau hinter der El Trinidad war. Und dann wäre sie leichte Beute für das spanische Kriegsschiff, falls sie sich nicht dicht hinter Hunter halten konnte.
Richtig schwierig würde es in der Einfahrt zur Bucht werden. Die beiden Schiffe mussten die Engstelle im kurzen Abstand passieren. Falls die El Trinidad nicht reibungslos hindurchkam, könnte sie von der Cassandra gerammt werden, was beide Schiffe beschädigen würde. Falls das bei der Durchfahrt der Engstelle passierte, wäre das der reinste Albtraum, da beide Schiffe auf die Korallenriffe auflaufen würden. Er war sicher, dass Sanson sich der Gefahr bewusst war; und ebenso sicher wusste Sanson auch, wie riskant es wäre, sich allzu weit zurückfallen zu lassen.
Es würde ein ausgesprochen kniffliges Manöver werden. Er lief nach vorn und spähte gegen das grell flirrende Sonnenlicht zur Monkey Bay hinüber. Er konnte die hügelige Landzunge sehen, die sich wie ein gekrümmter Finger von der Insel ausstreckte und die geschützte Spitze der Bucht bildete.
Die eigentliche Lücke im Riff konnte er nicht sehen. Die lag irgendwo unterhalb der glitzernden, funkelnden Wasserfläche vor ihm.
Er blickte am Hauptmast hoch zu Lazue und sah, wie sie Enders Zeichen gab – sie schwang die Faust nach oben und schlug mit der flachen Hand darauf.
Prompt brüllte Enders den Befehl, noch mehr Segel einzuholen. Hunter wusste, das konnte nur eines bedeuten: Sie waren der Passage durchs Riff ganz nahe. Er blinzelte ins grelle Licht, konnte aber noch immer nichts erkennen.
»Lotleinen! Steuerbord und backbord!«, rief Enders, und gleich darauf standen zwei Männer auf beiden Seiten des Bugs und riefen abwechselnd Tiefenangaben. Gleich die erste beunruhigte Hunter. »Volle fünf!«
Fünf Faden – dreißig Fuß – bedeutete bereits Untiefen. Die El Trinidad hatte drei Faden Tiefgang, viel Spiel war daher nicht. In seichten Gewässern konnten die Korallenriffe ohne Weiteres ein Dutzend Fuß hoch in unregelmäßigen Mustern wachsen. Und die scharfen Korallen würden den Holzrumpf aufreißen, als wäre er aus Papier.
»Cinq et demi«, lautete der nächste Ruf. Das war schon besser. Hunter wartete.
»Volle sechs und mehr!«
Er atmete ein wenig leichter. Anscheinend waren sie am äußeren Riff vorbei – die meisten Inseln hatten zwei, ein flaches inneres Riff und ein tieferes, das der Küste weiter vorgelagert war. Über eine kurze Strecke würde das Wasser jetzt sicher sein, bis sie das gefährliche Innenriff erreichten.
»Moins six!«, lautete der Ruf.
Es wurde schon wieder flacher. Hunter blickte erneut zu Lazue oben am Hauptmast hoch. Sie hatte den Körper vorgebeugt, entspannt, beinahe gleichgültig. Ihren Gesichtsausdruck konnte er nicht erkennen.
Lazues Körper war in der Tat entspannt. Er war so schlaff, dass sie Gefahr lief, von ihrem hohen Ausguck zu fallen. Sie hatte beide Arme locker um die obere Brüstung geschlungen, während sie vorgebeugt dasaß. Ihre Schultern hingen herab, jeder Muskel war locker.
Aber ihr Gesicht war angespannt und verkniffen, der Mund zu einer starren Grimasse verzogen, die Zähne fest zusammengebissen, während sie in die blendende Sonne spähte. Sie hatte die Augen fast geschlossen, und zwar schon so lange, dass ihre Lider vor Anspannung flatterten. Das hätte sie ablenken können, doch Lazue merkte es nicht einmal, da sie schon längst in eine Art Trancezustand gefallen war.
Ihre Welt bestand aus zwei schwarzen Gebilden – die Insel vor ihr und der Schiffsbug genau unter ihr. Dazwischen lag eine weite Fläche flimmerndes, unerträglich helles, sonnenbeschienenes Wasser, das in hypnotischen Mustern flirrte und glitzerte und in dem sie praktisch keinerlei Einzelheiten erkennen konnte.
Mitunter sah sie Korallenköpfe dicht unter Wasser. Sie tauchten kurz wie schwarze Punkte in dem grellweißen Licht auf.
Dann wieder, wenn der böige Wind vorübergehend abflaute, meine sie, Strudel und Strömungen zu sehen, die das einheitlich funkelnde Muster aufwühlten.
Ansonsten war das Wasser einheitlich blendend silbern. Durch diese flirrende Fläche lotste sie das Schiff allein aus dem Gedächtnis, denn vor über einer halben Stunde, als das Schiff noch weiter von der Küste entfernt war und das Wasser vor ihr klar, hatte sie sich eingeprägt, wo sich Untiefen, Korallenköpfe und Sandbänke befanden. Anhand von Orientierungshilfen am Ufer und im Wasser hatte sie sich ein genaues Bild gemacht.
Jetzt, da sie den Blick nach unten gerichtet hielt, auf das mittschiffs vorbeifließende Wasser, das durchsichtig war, konnte sie die Position der El Trinidad in Bezug auf dieses geistige Bild abschätzen. Tief unten sah sie einen runden Hirnkorallenkopf, der einem riesigen Blumenkohl ähnelte, auf der Backbordseite vorbeiziehen. Er verriet ihr, dass sie sich nördlicher halten mussten. Sie streckte den rechten Arm aus, sah, wie die schwarzen Bugumrisse einen leichten Schwenk machten, und wartete ab, bis das Schiff wieder auf einer Linie mit einer abgestorbenen Palme am Ufer war. Dann senkte sie die Hand, und Enders hielt den neuen Kurs.