Meiner Meinung nach wäre es Cameron deutlich besser gegangen, wenn sie sich nicht mehr so gut an das schöne Haus in Memphis, in dem wir aufgewachsen waren, erinnert hätte. Bevor unsere Eltern in der Gosse gelandet waren. Diese Erinnerungen sorgten auch dafür, dass sie einen Standard für uns anstrebte, der nur in ihrem Kopf existierte. Sie wurde wütend, wenn wir nicht sauber, ordentlich und wohlhabend wirkten. Sie flippte aus, wenn jemand ahnte, wie es bei uns zu Hause wirklich aussah. Manchmal sorgte ihr übertriebenes Bedürfnis, den Schein zu wahren, dafür, dass man nur schwer mit Cameron reden konnte. Oder besser gesagt leben konnte. Aber sie war uns Geschwistern gegenüber stets absolut loyal, gegenüber den Stiefgeschwistern ebenso wie gegenüber den leiblichen. Sie war fest entschlossen, Mariella und Gracie so zu erziehen, wie es den verblassten Erinnerungen an unsere respektable Vergangenheit entsprach. Cameron schuftete, damit der Wohnwagen sauber und ordentlich aussah, und ich unterstützte sie in diesem Kampf.
Die Begegnung mit Victoria hatte die Geister aus der Vergangenheit wiederbelebt. Während Tolliver schlief, musste ich an die Jahre denken, in denen ich überall erwartete, meine Schwester zu sehen. Ich stellte mir vor, wie ich mich in einem Geschäft umdrehte, und sie war die Verkäuferin, die meine Einkäufe einscannte. Oder die Prostituierte an der Straßenecke, an der wir eines Abends vorbeiliefen. Oder die junge Mutter, die einen Kinderwagen schob. Die mit den langen blonden Haaren.
Doch sie war es nie.
Einmal hatte ich sogar eine Frau gefragt, ob sie Cameron hieße, weil ich plötzlich felsenfest davon überzeugt war, sie wäre meine Schwester, nur ein wenig älter und verlebter. Ich hatte ihr Angst eingejagt. Ich hatte ganz schnell gehen müssen, da sie sonst die Polizei gerufen hätte.
Bei all den Fantasien hatte ich mich kein einziges Mal gefragt, wie Cameron in ihr zweites Leben hineingeraten war. Oder warum sie mich in all den Jahren nie angerufen oder mir geschrieben hatte.
Zunächst hatte ich angenommen, dass meine Schwester von einer Gang entführt und als Sklavin weiterverkauft worden sei. Ich hatte mir etwas Gewalttätiges, Furchtbares vorgestellt. Später überlegte ich, ob sie ihr Leben nicht vielleicht einfach nur satt gehabt hatte: die heruntergekommenen Eltern, den billigen Wohnwagen, die hinkende, geistesabwesende Schwester und die zwei Jüngsten, die sich ständig schmutzig machten.
Die meiste Zeit ging ich jedoch davon aus, dass Cameron tot war.
Das plötzliche Auftauchen eines der Detectives vom Vortag riss mich aus meinen trübsinnigen Gedanken. Er kam ganz leise ins Zimmer und sah auf meinen Bruder hinab. Dann fragte er: »Wie geht es Ihnen heute, Miss Connelly?« Mit einer Stimme, die kaum mehr war als ein Lufthauch, so gedämpft klang sie.
Ich stand auf, weil er mich mit seinem lautlosen Auftauchen und seiner gedämpften Stimme nervös machte. Er war nicht besonders groß, vielleicht knapp 1,80. Er war untersetzt und hatte einen dicken graumelierten Schnurrbart. Er hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinem Partner Parker Powers. Dieser Detective sah aus wie Millionen anderer Männer auch. Ich versuchte, mich an seinen Namen zu erinnern. Rudy irgendwas. Rudy Flemmons.
»Im Vergleich zu meinem Bruder geht es mir bestens«, sagte ich und wies mit dem Kinn auf die Gestalt im Bett. »Haben Sie schon einen Verdacht, wer ihm das angetan haben könnte?«
»Wir fanden ein paar Zigarettenstummel auf dem Parkplatz, aber die können von jedem stammen. Wir haben sie trotzdem eingesammelt, falls wir jemanden finden, von dem wir eine DNA-Probe nehmen können. Vorausgesetzt, die im Labor können irgendeine DNA sichern.« Wir starrten weiterhin den Patienten an. Tolliver öffnete die Augen, lächelte mich schwach an und schlief wieder ein.
»Glauben Sie, dass absichtlich auf ihn geschossen wurde?«, fragte der Detective.
»Er wurde getroffen«, sagte ich ein wenig verwirrt über die Frage. Natürlich hatte der Schütze auf Tolliver gezielt.
»Können Sie sich vorstellen, dass auf Sie geschossen wurde?«, fragte Rudy Flemmons.
»Warum denn das?« Kaum hatte ich das ausgesprochen, merkte ich auch schon, wie dämlich das klang. »Ich meine, wer sollte auf mich schießen? Wollen Sie damit sagen, dass die Kugel Tolliver bloß aus Versehen getroffen hat und dass sie eigentlich für mich bestimmt war?«
»Sie hätte für Sie bestimmt sein können«, sagte Flemmons. »Ich habe nicht behauptet, dass es so war.«
»Und wie kommen Sie darauf?«
»Sie spielen bei Ihnen beiden die Hauptrolle«, sagte Flemmons. »Ihr Bruder unterstützt Sie nur. Sie sind diejenige mit der besonderen Gabe. Insofern ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass jemand Probleme mit Ihnen hat und nicht mit Mr Lang. Soweit ich weiß, hat er eine Freundin?«
Das war der merkwürdigste Polizist, dem ich je begegnet war.
Ich seufzte. Schon wieder. »Ja, das stimmt«, sagte ich.
»Wer ist sie?« Er hatte schon sein Notizbuch gezückt.
»Ich.«
Flemmons sah mich fragend an: »Wie bitte?«
»Wie Sie wissen, sind wir nicht blutsverwandt.« Ich war es leid, unsere Beziehung rechtfertigen zu müssen.
»Stimmt, Sie haben nicht dieselben Eltern«, sagte er. Er hatte seine Hausaufgaben gemacht.
»Nein. Wir sind Partner, in jeglicher Hinsicht.«
»Verstehe. Ich bekam heute Morgen einen interessanten Anruf«, sagte Flemmons und ließ das Thema fallen. Sofort spitzte ich die Ohren.
»Ja? Von wem denn?«
»Von einem Detective aus Texarkana. Er heißt Peter Gresham und ist ein Freund von mir.«
»Was hat er Ihnen erzählt?«, fragte ich seufzend. Ich hatte keine Lust, schon wieder über das Verschwinden meiner Schwester zu sprechen. Heute war der reinste Cameron-Trauertag.
»Er meinte, es habe jemand wegen Ihrer Schwester angerufen.«
»Was war das für ein Anruf?« Es gibt mehr Verrückte als man denkt …
»Jemand hat sie im Einkaufszentrum von Texarkana gesehen.«
Mir verschlug es kurz den Atem, und ich japste nach Luft. »Cameron? Wer hat sie gesehen? Jemand, der sie von früher kennt?«
»Es war ein anonymer Anruf. Ein Mann rief von einem öffentlichen Telefon an.«
»Oh«, sagte ich und fühlte mich, als hätte mir soeben jemand einen Magenschwinger versetzt. »Aber … wie kann ich herausfinden, ob das stimmt? Wie kann ich dafür sorgen, dass sich diese Person meldet? Gibt es da irgendeine Möglichkeit?«
»Erinnern Sie sich noch an Pete Gresham? Er hat die Ermittlungen im Fall Ihrer Schwester geleitet.«
Ich nickte. Ich erinnerte mich an ihn, aber nur vage. Wenn ich an die schlimme Zeit unmittelbar nach Camerons Verschwinden zurückdenke, spüre ich nichts als Angst. »Er war recht groß«, sagte ich. Dann fügte ich schon etwas unsicherer hinzu: »Und er trug ständig Cowboystiefel. Er bekam eine Glatze, obwohl er noch recht jung war.«
»Ja, genau das ist er. Inzwischen ist Pete kahl. Das bisschen, was da noch wächst, rasiert er ab.«
»Was hat er wegen des Anrufs unternommen?«
»Er hat sich die Bänder der Überwachungskameras angesehen.«
»Die aus dem Einkaufszentrum?«
»Ja, und darauf ist der Parkplatz auch ziemlich gut zu erkennen, sagt Pete.«
»War sie da?« Ich würde schreien, wenn er es mir nicht sofort sagte.
»Da war eine Frau, auf die die Beschreibung Ihrer Schwester zutrifft. Aber es gibt keine deutliche Aufnahme von ihrem Gesicht. Wir können also nicht feststellen, ob sie wirklich Cameron Connelly ist.«