Das war kein angenehmer Ort. Obwohl mich die Polizei oft für eine Betrügerin und Schwindlerin hält, weshalb ich mit einzelnen Beamten oft nicht gut klarkomme, bin ich insgesamt schon sehr froh, dass es Leute gibt, die diesen Job machen. »Sie müssen sich den ganzen Tag Lügen anhören«, dachte ich laut. »Wie halten Sie das bloß aus?«
Rudy Flemmons drehte sich um und sah mich an. »Das gehört einfach dazu«, sagte er. »Irgendjemand muss sich ja zwischen die Normalbürger und die Bösen stellen.«
Mir fiel auf, dass der Detective nicht »die Guten« gesagt hatte. Wenn ich schon so lange bei der Polizei wäre wie Flemmons, würde ich wahrscheinlich auch niemanden mehr als gut bezeichnen.
Am Ende des Labyrinths lag eine Art Besprechungsraum mit einem langen Tisch, um den ramponierte Stühle standen. An einem Ende war die Videoausrüstung aufgebaut worden. Nachdem ich mich gesetzt hatte, machte Flemmons das Licht aus und drückte auf einen Knopf.
Ich war so angespannt, dass der ganze Raum summte. Ich starrte auf den Bildschirm, aus Angst, etwas zu verpassen.
Gleich darauf sah ich eine Frau, die Ende zwanzig oder Anfang dreißig zu sein schien und über einen Parkplatz lief. Ihr Gesicht war nicht deutlich zu erkennen. Es war teilweise abgewandt. Sie hatte lange blonde Haare, war klein und gedrungen. Ich schlug die Hände vor den Mund, um keinen Laut zu geben, bis ich wusste, was ich sagen wollte.
Die Szene wechselte abrupt und zeigte dieselbe Frau beim Betreten des Einkaufszentrums. Sie trug eine Einkaufstüte von Buckle. Diese Aufnahme war frontal gemacht worden. Obwohl der Film grobkörnig und sie nur kurz zu sehen war, schloss ich die Augen und spürte, wie mir mein Magen in die Kniekehle rutschte.
»Das ist sie nicht«, sagte ich. »Das ist nicht meine Schwester.« Ich glaubte, weinen zu müssen – meine Augen brannten –, aber ich weinte nicht. Aber meine Anspannung und die anschließende Enttäuschung (oder Erleichterung) waren enorm.
»Sind Sie sicher?«
»Nicht ganz.« Ich zuckte die Achseln. »Wie auch, wenn ich ihr nicht direkt ins Gesicht sehen kann? Seit ich meine Schwester zum letzten Mal gesehen habe, sind mehr als acht Jahre vergangen. Aber ich kann sagen, dass das Gesicht dieser Frau runder ist. Und ihr Gang ist auch nicht der von Cameron.«
»Lassen Sie uns das Band noch mal ansehen, um ganz sicher zu sein«, sagte Flemmons sachlich. Ich richtete mich auf und sah es mir erneut an. Diesmal konnte ich besser auf Kleinigkeiten achten.
Die Frau von den Parkplatzaufnahmen trug eine riesige Handtasche. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Schwester sich je so etwas aussuchen würde. Natürlich ändert man seinen Geschmack, wenn man älter wird, aber dass sich Camerons Taschengeschmack dermaßen anders entwickelt hatte, konnte ich mir nicht vorstellen. Die Einkäuferin trug hochhackige Schuhe zur Hose, und Cameron hielt nichts von hohen Absätzen im Alltag. Dennoch konnte sie natürlich ihren Schuhgeschmack ebenso wie den Handtaschengeschmack geändert haben. Ich trug auch nicht mehr dieselben Accessoires wie damals auf der Highschool. Aber die Gesichtsform der Frau und die Art, wie sie sich in dem Film bewegte, nämlich mit leicht eingefallenen Schultern – nein, diese Frau konnte unmöglich Cameron sein.
»Sie ist es auf gar keinen Fall«, sagte ich nach dem zweiten Anschauen. Ich war jetzt viel ruhiger. Der Schock war vorbei, und ich begriff, dass wieder eine Hoffnung enttäuscht worden war.
Rudy Flemmons senkte kurz den Blick, und ich fragte mich, was er wohl vor mir verbarg. »Na gut«, sagte er leise. »Na gut. Ich werde Pete Gresham Bescheid geben. Ich soll Sie übrigens von ihm grüßen.«
Ich nickte. Jetzt, wo ich das Band angeschaut hatte und wusste, dass diese Frau nicht meine Schwester war, platzte ich schier vor Neugier, wer der Anrufer gewesen war.
Ich versuchte, ein paar Fragen zu stellen, aber Detective Flemmons hielt sich bedeckt. »Ich sage Ihnen Bescheid, sobald ich mehr weiß«, sagte er, was mich natürlich enttäuschte.
Ich spannte wieder meinen Schirm auf und eilte zum Wagen. Während ich den Schirm ausschüttelte und hinterm Lenkrad Platz nahm, spürte ich, wie das Handy in meiner Tasche vibrierte. Ich warf den Schirm auf die Rückbank, knallte die Tür zu und klappte das Handy auf.
»Mariah Parish hatte tatsächlich ein Kind«, sagte Victoria Flores.
»Darfst du mir das überhaupt sagen?«
»Ich habe bereits mit Lizzie Joyce gesprochen. Ich suche jetzt nach dem Kind. Nach Lizzies Auftrag habe ich Stunden am Computer verbracht und Erkundigungen eingeholt. Die ganze Sache ist äußerst merkwürdig, das kann ich dir sagen. Da sie erlaubt hat, dass du mit mir redest, gehe ich davon aus, dass ich auch mit dir reden darf.« Victoria, die immer so verschlossen und nüchtern wirkte, sprudelte förmlich über vor Mitteilungsdrang.
»Das ist zwar nicht unbedingt gesagt, aber wie du weißt, werde ich niemandem davon erzählen.« Ich muss zugeben, dass ich selbst neugierig war.
»Wollen wir zusammen essen gehen? Ich nehme an, dass du nicht viel rauskommst, jetzt wo dein Süßer im Krankenhaus liegt.«
»Das klingt gut.«
»Prima, wie wär’s mit dem Outback Steakhouse? Es gibt eines ganz in der Nähe des Krankenhauses.« Sie nannte mir die Adresse, und ich versprach, sie dort um halb sieben zu treffen.
Ich staunte nicht schlecht, dass Victoria so gesprächig war. Ihr Interesse, mit mir zu reden, war irgendwie merkwürdig. Aber es stimmte, ich fühlte mich einsam. Es tat gut zu wissen, dass jemand mit mir reden wollte. Iona hatte genau einmal angerufen, um sich nach Tolliver zu erkundigen, aber es war ein kurzes, pflichtschuldiges Gespräch gewesen.
Krankenhäuser sind eine Welt für sich, und dieses hier drehte sich unablässig um die eigene Achse. Als ich Tollivers Zimmer betrat, hatte man ihn gerade zu Untersuchungen abgeholt, aber niemand konnte mir sagen, was für Untersuchungen das waren und warum sie gemacht wurden.
Ich fühlte mich mutterseelenallein. Nicht einmal der eigentlich ans Krankenhausbett gefesselte Tolliver war da, wo er sein sollte. Mein Handy klingelte, und ich zuckte schuldbewusst zusammen. Ich dürfte es im Krankenhaus gar nicht an haben. Aber ich ging trotzdem dran.
»Harper? Alles in Ordnung?«
»Manfred! Wie geht es dir?« Ich lächelte.
»Ich hatte so das ungute Gefühl, dass du in Schwierigkeiten steckst, und musste anrufen. Störe ich gerade?«
»Ich bin froh, dass du dich meldest«, sagte ich, wahrscheinlich begeisterter als ich sollte.
»Na dann«, meinte er. »Ich nehme das nächste Flugzeug.« Das war nur halb im Spaß dahingesagt. Manfred Bernardo, ein Hellseher in spe, war drei oder vier Jahre jünger als ich, hatte aber noch nie einen Hehl daraus gemacht, wie attraktiv er mich fand.
»Ich fühle mich einsam, weil Tolliver angeschossen wurde«, sagte ich, wobei mir sofort auffiel, wie egoistisch das klang. Nachdem ich Manfred erzählt hatte, was passiert war, wurde er ganz aufgeregt. Er wollte tatsächlich nach Texas kommen, damit ich eine Schulter zum Ausweinen hätte, wie er es nannte. Ich war völlig gerührt, und einen verrückten Moment lang überlegte ich, Ja zu sagen. Es wäre tröstlich, Manfred um mich zu haben – mit seinen Piercings, Tattoos und allem anderen. Erst als ich mir Tollivers Gesicht vorstellte, kam ich wieder davon ab.
Bevor wir das Gespräch beendeten, hatte ich Manfred versprochen, anzurufen, »falls sich die Lage verschlechtert«. Das war vage genug, um uns beide zufriedenzustellen. Er hatte mir seinerseits versprochen, sich täglich telefonisch nach mir zu erkundigen, bis Tolliver aus dem Krankenhaus entlassen wurde.