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Als ich auflegte, hatte sich meine Laune deutlich gebessert. Sie hob sich noch einmal, als ein Pfleger Tolliver im Rollstuhl hereinschob, kurz nachdem ich mein Handy zugeklappt hatte. Er hatte eine viel bessere Gesichtsfarbe als noch am Vortag, aber ich sah, dass er doch sehr schwach war, weil er so in sich zusammengesunken im Rollstuhl saß. Tolliver musste wieder ins Bett, auch wenn er das nur ungern zugab.

Nachdem der Pfleger dafür gesorgt hatte, dass Tolliver bequem lag und alles hatte, was er brauchte, verschwand er mit diesen wippenden, leisen Schritten, die sich Krankenhausangestellte im Rahmen ihres Jobs anzueignen scheinen. Wie mir Tolliver sagte, war sein Schlüsselbein nochmals geröntgt worden. Ein Neurologe sei gekommen, um zu kontrollieren, dass auch wirklich keine Nerven verletzt worden waren.

»Hast du schon mit Dr. Spradling gesprochen?«, fragte ich.

»Ja, er kam vorher vorbei und meinte, dass es gut aussieht. Ich habe dich schon vor einer Stunde erwartet.« Tolliver hatte völlig vergessen, dass ich noch auf dem Polizeirevier vorbeischauen wollte.

Ich erzählte ihm von dem Videoband und beschrieb ihm, wie sich die Frau von Cameron unterschieden hatte.

»Das tut mir leid«, sagte er. »Ich habe mir schon gedacht, dass es jemand anderes ist, aber ein bisschen Hoffnung hat man immer.« Genauso war es mir auch gegangen.

»Sie war es aber nicht. Ich frage mich nur, warum sie jemand verwechselt hat. Wer hat bitteschön die Polizei verständigt? Wer hat Pete dazu gebracht, sich die Bänder anzusehen? Diese Frau sah Cameron zumindest so ähnlich, dass ich mir auf Petes ausdrücklichen Wunsch hin das Band ansehen sollte. War der anonyme Anrufer jemand, der mit mir und Cameron die Highschool besucht hat? Jemand, der sich aufrichtig getäuscht hat? Oder war es nur irgendein Verrückter, der uns an der Nase herumführen will?«

»Und warum ausgerechnet jetzt?«, fragte Tolliver und sah mich an. Aber diese Frage konnte ich ihm auch nicht beantworten.

»Ich wüsste nicht, was das mit Rich Joyce und seiner Pflegerin zu tun haben sollte«, sagte ich. »Aber das Timing ist wirklich eigenartig.«

Wir wussten nicht, was wir sonst noch zu dieser merkwürdigen Häufung von Vorfällen sagen sollten. Nach einer Weile fand ich Tollivers Kamm in einer Tasche seiner Jeans, die im Schrank hing. Sie war etwas fleckig. Ein neues Hemd brauchte er sowieso. Ich nahm mir vor, frische Sachen mitzubringen, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen würde.

Als ich begann, seine Haare zu kämmen, merkte ich natürlich, dass sie ungewaschen waren. Ich überlegte, wie ich sie waschen konnte. Mit etwas Fantasie, einer sauberen Bettpfanne, zusätzlichem Verbandsmaterial, das man gebracht hatte, falls seine Schulter nachblutete, und einem kleinen Fläschchen Shampoo vom Krankenhaus gelang es mir schließlich. Ich half ihm auch beim Rasieren und Zähneputzen und wusch ihn mit einem Schwamm, was zu meiner Überraschung in eine ziemlich obszöne Aktion ausartete.

Danach war er sehr entspannt, schläfrig und glücklich und meinte, dass er sich schon viel besser fühle. Ich kämmte sein feuchtes, dunkles Haar und küsste ihn auf seine glatte Wange. Er hatte gerade eine seiner bartlosen Phasen.

Ich war kaum damit fertig, als eine Schwester hereinkam, um ihn zu baden. Als ich sagte, das wäre bereits erledigt, zuckte sie nur die Achseln.

Im Krankenhaus vergeht die Zeit unendlich langsam. Doch bevor ich Tolliver von Victorias Anruf erzählen konnte, schlief er ein. Ich wollte ihn auf keinen Fall wecken, da der überwiegende Teil des Tages noch vor uns lag. Ich machte selbst ein Nickerchen und wurde mühsam wach, als um halb zwölf Tollivers Tablett mit dem Mittagessen gebracht wurde.

Noch so eine aufregende Abwechslung. Ich schnitt sein Essen klein – viel gab es da ohnehin nicht zu schneiden – und steckte einen Strohhalm in sein Glas. Er freute sich dermaßen, wieder feste Nahrung zu sich nehmen zu können, statt nur am Tropf zu hängen, dass ihm sogar das Krankenhausessen hochwillkommen war. Als ich mir sicher war, dass er genügend gegessen hatte, rollte ich den Tisch weg und reichte ihm die Fernbedienung für den Fernseher. Es wurde Zeit, dass ich mir selbst etwas zu essen besorgte.

»Du musst hier nicht den ganzen Nachmittag herumsitzen«, sagte Tolliver.

»Nachdem ich etwas gegessen habe, werde ich den Nachmittag mit dir verbringen«, sagte ich in einem Ton, der keine Widerrede zuließ. »Um halb sieben treffe ich Victoria zum Abendessen und werde wahrscheinlich nicht noch mal wiederkommen.«

»Gut. Ich will nicht, dass du hier den ganzen Tag eingepfercht bist. Du willst bestimmt laufen gehen, den Fitnessraum des Hotels ausprobieren oder so.«

Da hatte er nicht ganz unrecht. Ich bin es zwar gewohnt, länger still zu sitzen, ganz einfach, weil wir so oft im Auto unterwegs sind. Aber ich bin es auch gewohnt, jeden Tag zu trainieren, und meine Muskeln waren steif.

Ich holte mir einen Salat in einem Fastfoodlokal und genoss das geschäftige Treiben um mich herum. Es fühlte sich komisch an, allein dort zu sein, was mir allerdings gleich weniger ausmachte, als ich sah (und hörte), wie sich am Nebentisch eine Mutter mit drei Vorschulkindern herumplagte. Ob sich Tolliver wohl Kinder wünschte? Ich wollte keine. Ich hatte bereits zwei Babys gehabt, um die ich mich kümmern musste, nämlich meine kleinen Schwestern. Ich hatte keine Lust, das noch einmal zu erleben. Und obwohl ich nicht aus dem Leben meiner Schwestern verbannt werden wollte, wollte ich auch nicht für sie verantwortlich sein.

Nicht einmal, als ich sah, wie der kleinste Junge seine Mutter spontan umarmte und küsste, bekam ich Lust, ein fremdes Wesen in meinem Körper zu beherbergen. Musste ich deswegen ein schlechtes Gewissen haben? Wünschte sich nicht jede Frau ein eigenes Kind, das sie lieben konnte?

Nicht unbedingt, dachte ich. Außerdem gibt es wahrhaftig genügend Kinder auf der Welt. Da muss ich nicht auch noch welche kriegen.

Tolliver war wach und sah sich ein Basketballspiel an, als ich wieder in sein Zimmer kam. »Mark hat angerufen, während du weg warst«, sagte er.

»Oh je, bist du überhaupt ans Telefon gekommen?«

»Das war meine große Herausforderung für heute.«

»Was wollte er?«

»Oh, mir sagen, dass ich meinen Dad verletzt habe. Und dass er es blöd von mir findet, dass ich Dad nicht mit ausgebreiteten Armen im Land der Nüchternen empfange.«

Ich kämpfte kurz mit mir und rang mich dann dazu durch, zu sagen, was ich dachte. »Mark hat eine echte Schwäche für deinen Dad, Tolliver. Du weißt, dass ich Mark sehr mag, er ist wirklich ein toller Kerl. Aber das mit Matthew wird er nie begreifen.«

»Ja«, sagte Tolliver. »Da hast du recht. Er hing wahnsinnig an Mom, und als sie starb, hat er diese Gefühle auf unseren Dad übertragen.«

Tolliver sprach nur selten über seine Mutter. Ihr Krebstod musste eine schreckliche Erfahrung für ihn gewesen sein.

»Meiner Meinung nach glaubt Mark, dass Dad im Grunde seines Herzens ein guter Kerl ist«, sagte Tolliver langsam. »Denn sonst hätte er den einzigen Elternteil verloren, den er noch hat. Aber den braucht er.«

»Glaubst du, dass dein Dad im Grunde seines Herzens ein guter Kerl ist?«

Tolliver dachte lange nach, bevor er antwortete. »Ich hoffe, dass er sich einen guten Kern bewahrt hat«, sagte er. »Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass er clean bleiben wird, falls er überhaupt clean ist. Er hat uns diesbezüglich schon so oft belogen. Letztendlich kehrt er immer wieder zu den Drogen zurück. Und wenn es ganz schlimm wird, nimmt er alles, was er kriegen kann. Er muss sehr gelitten haben, dass er so viele Drogen brauchte, um dieses Leid abzutöten. Andererseits hat er uns jedem überlassen, der uns ausnutzen wollte, nur um Drogen nehmen zu können. Nein, ich kann ihm nicht vertrauen«, sagte Tolliver. »Ich hoffe nur, dass ich es niemals tue, denn dann werde ich bloß wieder enttäuscht.«

»Genauso ging es mir mit meiner Mutter«, sagte ich verständnisvoll.