»Ja, Laurel war wirklich krass«, sagte Tolliver. »Weißt du, dass sie versucht hat, Mark und mich anzumachen?«
Mir wurde ganz schlecht. »Nein«, sagte ich heiser.
»Ja, so war es. Cameron wusste davon. Sie kam im … äh … entscheidenden Moment ins Zimmer. Mark wäre vor lauter Scham am liebsten im Erdboden versunken, und ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.«
»Was ist passiert?« Ich empfand eine tiefe, brennende Scham. Ich redete mir ein, nichts damit zu tun zu haben, aber das ist nicht so einfach, wenn man eine Geschichte über seine engsten Verwandten hört, bei der man sich am liebsten übergeben würde.
»Na ja, Cameron hat ihre Mutter ins Schlafzimmer geschleift und sie gezwungen, sich etwas anzuziehen«, sagte Tolliver. »Ich glaube nicht, dass Laurel wusste, wo sie war und wen sie da anmachte, Harper, falls dir das etwas hilft. Cameron hat deine Mom mehrmals geohrfeigt.«
»Meine Güte!«, sagte ich. Manchmal fehlen einem einfach die Worte.
»Wir haben es hinter uns«, sagte Tolliver, wie um sich selbst zu überzeugen.
»Ja«, sagte ich. »Und wir haben uns.«
»Das kann uns nichts mehr anhaben.«
»Nein«, sagte ich. Aber das war gelogen.
9
Das Steakhouse, in dem ich mich mit Victoria Flores traf, war ziemlich voll. Kellner eilten hin und her. Nach der gedämpften Geräuschkulisse im Krankenhaus empfand ich die Atmosphäre als unheimlich lebhaft.
Zu meiner Überraschung kam Victoria nicht allein. Drexell Joyce, der Bruder von Lizzie und Kate, saß bei ihr am Tisch.
»Hallo, Süße!«, sagte Victoria, stand auf und umarmte mich. Ich war überrascht, aber nicht so sehr, dass ich vor ihr zurückgewichen wäre. Ich wusste gar nicht, dass wir uns so nahestanden. Bestimmt zog sie diese Show bloß für Drexell Joyce ab. Ich hatte mich auf ein gemütliches Abendessen unter Frauen gefreut, die das Aufklären von Geheimnissen zu ihrem Beruf gemacht haben. Und nicht auf irgendwelche Spielchen mit einem Unbekannten.
»Mr Joyce«, sagte ich, während ich mich setzte und meine Handtasche unter dem Tisch verstaute.
»Oh, bitte nennen Sie mich Drex«, erwiderte er mit einem breiten Grinsen. Er musterte mich mit übertriebener Bewunderung, die ich ihm kein bisschen abnahm.
»Wieso sind Sie nicht auf der Ranch?«, fragte ich mit einem hoffentlich entwaffnenden Lächeln.
»Meine Schwestern haben mich gebeten, Victoria zu treffen, um zu hören, wie weit sie mit ihren Ermittlungen gekommen ist. Wenn wir eine kleine Tante oder einen kleinen Onkel haben, wollen wir das Baby finden und dafür sorgen, dass es standesgemäß aufwachsen kann«, sagte Drex.
»Sie gehen also davon aus, dass Maria Parishs Kind von Ihrem Großvater war?« Ich fand das erstaunlich und machte keinen Hehl daraus.
»Ja, genau. Er war alt, das schon, aber er war ein ziemliches Schlitzohr. Mein Granddad hatte schon immer eine Schwäche für Frauen.«
»Und Sie glauben, dass sich Maria Parish auf seine Avancen eingelassen hat?«
»Nun, er war sehr charismatisch, vielleicht dachte sie auch, ihr Job hinge davon ab. Granddad mochte es gar nicht, wenn man ihm etwas abschlug.«
Wie reizend. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, und beschloss, lieber zu schweigen.
»Und, wie geht es deinem Bruder?«, fragte Victoria mit aufrichtiger Anteilnahme.
Ich war enttäuscht. Ich war mir sicher, dass mich Victoria nicht ohne Hintergedanken hergebeten hatte. Sie war gar nicht an meiner Gesellschaft interessiert. »Es geht ihm schon deutlich besser, danke der Nachfrage«, sagte ich. »Ich hoffe, dass er übermorgen entlassen wird.«
»Wohin fahrt ihr als Nächstes?«
»Tolliver managt unsere Aufträge. Wenn er wieder fit genug ist, werde ich unseren Terminplan mit ihm durchgehen. Wir hatten ohnehin geplant, eine Woche zu bleiben, um unsere Familie zu besuchen.«
»Oh, Sie haben Verwandte hier?« Drex beugte sich neugierig vor.
»Ja, unsere beiden kleinen Schwestern leben hier.«
»Wer zieht sie groß?«
»Meine Tante und ihr Mann.«
»Und sie leben hier in der Nähe?«
Vielleicht war Drex einfach nur fasziniert von allem, was ich tat, doch ich nahm ihm sein Interesse nicht ab. »Verbringt Ihre Familie viel Zeit in Dallas?«, fragte ich. »Ich habe erst neulich Ihre Schwestern getroffen, und jetzt sind Sie hier. Das ist eine ziemliche Fahrerei.«
»Wir haben eine Wohnung hier und eine in Houston«, sagte Drex. »Auf der Ranch sind wir etwa zehn Monate im Jahr, aber ab und zu müssen wir auch mal ein bisschen Stadtluft schnuppern. Nur Chip nicht. Er liebt es, die Ranch zu leiten. Aber Kate und Lizzie sitzen in etwa zehn verschiedenen Vorständen, angefangen von Banken bis hin zu Wohltätigkeitsorganisationen. Und die tagen alle in Dallas.«
»Und Sie nicht?«, fragte Victoria. »Engagieren Sie sich nicht für wohltätige Zwecke?«
Drex lachte und warf den Kopf in den Nacken. Wahrscheinlich, damit wir sein markantes Kinn aus einer anderen Perspektive bewundern konnten. Ich fragte mich, was er wohl tat, wenn er eines Tages kein so straffes Kinn mehr besäße. Ich weiß aus Erfahrung, dass im Grab niemand mehr gut aussieht.
»Die meisten Organisationen, Victoria, sind schlau genug, mich nicht in ihren Vorstand zu holen«, sagte er augenzwinkernd. Einer von den guten alten Millionärssöhnchen. »Ich kann nicht gut stillsitzen, und wenn ich mir die ganzen Reden anhören müsste, würde ich sofort einschlafen.«
Wie konnte Victoria diesen Mist bloß ertragen? Sie sah aus, als fände sie dieses Arschloch tatsächlich charmant.
»Aber um auf unser Gespräch von vorhin zurückzukommen, Victoria, wie läuft es mit der Suche?«, fragte Drex wie ein Mann, der nach einem Späßchen gezwungen ist, wieder zum geschäftlichen Teil überzugehen.
»Ziemlich gut, würde ich sagen«, erwiderte Victoria, und ich wurde sofort hellhörig. Victoria klang ruhig und kompetent und mehr als nur ein bisschen vorsichtig. »Ich stelle gerade Mariahs vollständige Biografie zusammen, was schwieriger ist, als ich dachte. Was haben Sie denn für Erkundigungen über sie eingezogen, bevor sie als Pflegerin für Ihren Großvater engagiert wurde?«
»Ich glaube nicht, dass Lizzie irgendwelche Erkundigungen eingezogen hat«, sagte Drex aufrichtig überrascht. »Ich glaube, mein Großvater hat sie eingestellt. Als wir davon erfuhren, lebte Mariah längst im Haus.«
»Aber Sie hatten überlegt, eine Pflegerin für ihn zu engagieren?«, fragte Victoria.
»Er brauchte jemanden, der mehr war als nur eine Haushälterin, aber weniger als eine Krankenschwester«, sagte Drex. »Er brauchte eine Hilfe. Im Grunde war sie so etwas wie ein Kindermädchen. Sie achtete darauf, dass er sich gesund ernährte, und versuchte, seinen Alkoholkonsum zu kontrollieren. Aber er wäre ausgeflippt, wenn wir sie so genannt hätten. Sie hat ihm auch täglich den Blutdruck gemessen.«
Victoria hakte nach. »War Mariah eine ausgebildete Krankenschwester?«
»Nein, nein. Ich glaube nicht, dass sie irgendeine Ausbildung hatte. Sie sollte darauf achten, dass er seine Medikamente nahm, ihn an seine Verabredungen erinnern, ihn fahren, wenn es ihm nicht gut ging, und den Arzt rufen, wenn ihr irgendwelche Warnsignale auffielen, die man ihr aufgeschrieben hatte. Sie war eine Art menschliche Alarmanlage oder sollte es zumindest sein.«
Ich tauschte einen kurzen Blick mit Victoria. Ich war also nicht die Einzige, die so etwas wie Ablehnung aus Drex’ Monolog heraushörte. Inzwischen war ich längst nicht mehr davon überzeugt, dass sich Victoria für Drex interessierte. Victoria spielte ein raffinierteres Spiel, als ich es mir je hätte ausdenken und umsetzen können.
»Sie selbst sah sich jedoch in einer etwas anderen Rolle?«, fragte ich.
»Und ob! Sie sah sich wahrscheinlich als eine Art Wachhund«, sagte Drex. Er nahm einen großen Schluck von seinem Bier und sah sich nach der Bedienung um. Dabei hatten wir erst vor wenigen Minuten bestellt.