»Wenn ich mich auf meinen persönlichen Eindruck verlasse«, sagte Tolliver, »schätze ich, dass sie nicht sehr freundlich darauf reagiert hat. Sie wollte, dass Harper kommt, und sie hatte das Geld, uns ein lohnenswertes Geschäft in Aussicht zu stellen. Doch dann unterlief ihr ein furchtbarer Fehler: Sie führte Harper nicht direkt zu Richs Grab. Sie ließ Harper herumlaufen und ihre Fühler nach anderen Gräbern ausstrecken. Und Harper landete auf dem von Mariah. Lizzie konnte Harper glauben oder es lassen. Aber da sie ihr gutes Geld gezahlt hatte, beschloss Lizzie, ihr zu glauben. Jetzt wusste Lizzie, dass Mariah schwanger gewesen war und dass ihr Tod wahrscheinlich hätte verhindert werden können. Oder dass die Geburt zumindest unter Umständen stattfand, die alles andere als günstig oder normal waren, weshalb sie sich nicht davon erholte. Das Baby lag nicht bei ihr im Sarg, also ist etwas mit ihm geschehen. Mariahs Todesursache wurde mit einer Infektion angegeben, aber um welche Infektion es sich dabei handelte, verschwieg man. Ich frage mich, ob der Arzt, der den Totenschein ausstellte, den wahren Grund kannte.«
»Dem können wir nachgehen«, sagte ich. »Wir können ihn aufsuchen und ihm Fragen stellen. Befindet sich eine Kopie des Totenscheins bei Mariahs Unterlagen?«
Mir fiel auf, dass Tolliver müde aussah, und es war Manfred, der die Kopie des Totenscheins fand. »Dr. Tom Bowden«, sagte er. Ich rief die Auskunft an, aber in dem kleinen Ort neben der Joyce-Ranch gab es niemanden dieses Namens. Als Nächstes versuchte ich es in Texarkana, aber auch dort wohnte kein Dr. Tom Bowden. Manfred ging in unser Schlafzimmer und kehrte mit dem riesigen Telefonbuch von Dallas zurück. Er schlug die Rubrik »Ärzte« in den Gelben Seiten auf und verkündete triumphierend, dass ein Dr. Bowden aufgeführt war.
»Den müssen wir morgen aufsuchen«, sagte ich. »Tolliver braucht jetzt Ruhe.«
»Oh, natürlich, klar«, sagte Manfred entwaffnend schuldbewusst. »Tut mir leid, Tolliver. Ich hatte ganz vergessen, wie gehandicapt du bist.«
Tolliver runzelte die Stirn »Mir geht es von Tag zu Tag besser«, sagte er.
»Klar«, versicherte ihm Manfred. »Da ich noch Energie habe, werde ich in der Zwischenzeit die Praxis dieses Arztes ausfindig machen.«
»Bist du dir da wirklich sicher?«, fragte ich. »Vielleicht ist das keine gute Idee.«
»Ich sehe sie mir nur mal kurz an«, meinte Manfred. »Ich habe nicht umsonst ein Navi und werde es einsetzen. Danke für das Abendbrot.« Er schob das Wägelchen vom Zimmerservice für mich hinaus auf den Flur, während ich Tolliver aufhalf. Zum ersten Mal seit Stunden nahm Tolliver zusätzlich zu den anderen Tabletten ein Schmerzmittel. Insgeheim machte ich mir Vorwürfe, dass ich nicht gemerkt hatte, wie müde er geworden war.
Ich half ihm beim Ausziehen, und irgendwann lag er endlich mit seiner Schlafanzughose und seiner Medikamentenration im Bett. Ich fand eine Folge von ›Law and Order‹ und machte es mir gemütlich. Tolliver war keine zehn Minuten später eingeschlafen.
Ich war erschöpft. Ich hatte über die Joyces, über Mariah Parish, über Victoria und ihre Tochter nachgedacht. Den ganzen Tag waren mir fremde Leute im Kopf herumgeschwirrt, und dann noch Rudy Flemmons Trauer. Jetzt wollte ich an nichts mehr denken und nicht die Last fremder Gefühle tragen. Es tat unheimlich gut, ins Wohnzimmer zu gehen und mir den dämlichsten Film anzusehen, den ich finden konnte. Dabei lackierte ich mir Finger- und Fußnägel. Ich rief meine kleinen Schwestern an und telefonierte zwanzig Minuten mit ihnen, bevor Iona meinte, sie müssten in die Badewanne. Iona versuchte das Gespräch auf meine Beziehung mit Tolliver zu bringen, aber ich ließ mich nicht darauf ein. Ich legte auf und war zufrieden mit mir – ein angenehmes Gefühl nach den vielen unerfreulichen Erlebnissen der letzten Tage.
Apropos unerfreuliche Erlebnisse: Ich rief im Krankenhaus an und erkundigte mich nach Detective Powers. Die Rezeption verband mich mit dem Wartezimmer, und ich sagte dem Mann am anderen Ende, dass ich mit Beverly Powers sprechen wolle.
»Sie kann gerade nicht ans Telefon. Parker ist soeben verstorben«, sagte die Männerstimme, danach wurde aufgelegt. Der Mann weinte.
Egal, wie oft ich mir sagte, dass ich Parker Powers nicht umgebracht hatte: Hätte er nicht versucht, mich zu beschützen, wäre er bestimmt noch am Leben.
Leider gab es keine Zauberformel, mit der ich das rückgängig machen konnte. Und auch keine Philosophie, die den Schmerz seiner Freunde und Verwandten lindern konnte. Ich schaffte es nicht, die Erinnerung daran, wie er zusammengebrochen war und das Blut aus seiner Wunde strömte, während ich im Schatten des Wagens kauerte, zu verdrängen. Ganz besonders ärgerlich war, dass ich mich vor dem Mann, der so etwas Abartiges getan hatte, verstecken musste.
Das war der Stolz, der aus mir sprach. Aber wenn jemand versucht, einen umzubringen, ist es sehr wohl sinnvoll, sich zu verstecken.
Trotzdem passte das so gar nicht zu dem Bild, das ich von mir hatte. Vielleicht lag es an den Comics, die ich als Kind gelesen hatte, oder an den Frauenthrillern, die ich jetzt las. Darin ist jede Detektivin oder Polizistin in der Lage, die Bürger ohne Skrupel zu beschützen und den Bösewicht zur Strecke zu bringen. Jede Comic-Heldin agiert völlig angstfrei und vollbringt wahre Heldentaten, wenn es darum geht, die Menschheit zu retten.
Ich dagegen hatte mich von einem abgehalfterten, nicht besonders hellen Ex-Footballspieler beschützen lassen, und er war dabei ums Leben gekommen.
Er wusste, dass er in Gefahr war. Er wusste, dass das zu seinem Job gehört. Er war bereit, das Risiko einzugehen, sagte mir mein gesunder Menschenverstand.
Und ich habe es bereitwillig zugelassen, musste ich mir eingestehen. Ich überlegte, was ich sonst hätte tun können. Wenn ich darauf bestanden hätte, allein zu joggen, wäre er mir dann trotzdem gefolgt? Vielleicht. Was, wenn ich beschlossen hätte, im Hotel zu bleiben? Ja, dann wäre er noch am Leben. Ich fühlte mich Parker Powers verpflichtet und konnte nur hoffen, nicht noch einmal zu versagen.
15
In dieser Nacht schlief ich nicht besonders gut. Es war schön, Tollivers Atmung zu lauschen, während ich mich hin und her warf. Als das Licht unter den schweren Vorhängen hervordrang, gestattete ich mir, aufzustehen. Ich fühlte mich völlig erschöpft, bevor der Tag überhaupt begonnen hatte. Ich zwang mich, noch einmal aufs Laufband zu gehen, in der Hoffnung, so etwas Energie zu tanken. Eine Strategie, die sich nicht auszahlte.
Falls Manfred Tom Bowdens aktuelle Praxis ausfindig gemacht hatte, würde ich Dr. Bowden noch am Vormittag einen Besuch abstatten. Dabei dürfte es mir nicht weiter schwerfallen, an der Arzthelferin vorbeizukommen, denn mein Spiegelbild sagte mir, dass ich nicht sehr gesund aussah. Obwohl wir uns für eine ganz bestimmte Uhrzeit verabredet hatten, klopfte Manfred leise an die Tür, als ich mich anzog.
Tolliver, der gerade aufgewacht war, grummelte griesgrämig. Dementsprechend angenehm war es, in seiner Gesellschaft zu sein. Manfred war dumm genug, mit penetranter Fröhlichkeit und zahlreichen Genesungswünschen auf Tolliver einzureden. Er selbst strotzte nur so vor Gesundheit und Energie. Wenn man dann noch die Reflexe seiner silbernen Piercings dazunahm, sprühte er regelrecht Funken.
Manfred war schon am frühen Morgen sehr gesprächig.
Auf dem Weg zur Praxis, die Manfred am Vorabend ausfindig gemacht hatte, erzählte er mir, dass ihm seine Großmutter ihren gesamten Besitz vermacht hatte. Damit hatte seine Mutter, Xyldas einzige Tochter, nicht gerechnet. Aber nach ihrer anfänglichen Enttäuschung hatte sie es verstanden, da Manfred sich in den letzten Jahren sehr um Xylda gekümmert hatte.
»Xylda hatte etwas zu …?« Ich verstummte verlegen. Ich hatte gerade erstaunt nachfragen wollen, ob Xylda tatsächlich etwas zu vererben gehabt hatte.