»War es Rich Joyce, der zu Ihnen nach Hause kam?«
»Oh nein, natürlich nicht«, sagte Tom Bowden. »Es war einer seiner Angestellten, soweit ich weiß. Keine Ahnung, wie er hieß.« Er log. »Er sagte, Mr. Joyces Haushälterin sei krank und bräuchte mich. Man würde mir einen Zuschlag zahlen, wenn ich sofort zum Haus hinausführe. Natürlich bin ich hingefahren. Ungern, aber es war meine Pflicht und außerdem meine Chance, einen guten Eindruck bei Rich Joyce zu hinterlassen. Ich will gar nicht verhehlen, dass ich mir so etwas erhoffte.«
Er hätte sonst was verhehlen können – mich hätte er damit ohnehin nicht überzeugt. Ich spürte, wie Manfred neben mir unruhig wurde. Verbiss er sich da gerade ein Lachen?
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Ich fuhr in seinem Truck mit, und wir liefen gemeinsam durch den Regen. Wir durchquerten das große leere Haus und betraten ein Zimmer, in dem diese junge Frau lag. Sie war in einer schlimmen Verfassung. Sie hatte gerade ein Kind zur Welt gebracht. Anscheinend hatte sie unerwartet Wehen bekommen. Aus den Worten des Mannes schloss ich, dass sie die Schwangerschaft nicht mal bemerkt hatte.«
Ich versuchte vergeblich, das zu begreifen. »Aber als Sie dort hinausfuhren, wussten Sie da, dass Sie eine Schwangere behandeln mussten?«
Er schüttelte den Kopf. Keine Ahnung, ob das heißen sollte, dass er nichts davon gewusst hatte oder nur, dass er nicht darüber reden wollte. Ich hatte den Verdacht, dass er sich nicht noch mehr belasten wollte, indem er zugab, schon auf der Fahrt zu den Joyces gewusst zu haben, eine Patientin unter mehr oder weniger illegalen Umständen behandeln zu müssen.
»Was hat sie gesagt?«, fragte ich.
»Sie hat nicht viel gesagt. Sie war furchtbar mitgenommen, und es ging ihr sehr, sehr schlecht. Sie hatte hohes Fieber, sie schwitzte, zitterte und war äußerst instabil. Sie redete zusammenhangloses Zeug. Ich verstand nicht, warum der Mann sie nicht ins Krankenhaus gebracht hatte, woraufhin der meinte, sie hätte das nicht gewollt. Sie dürfe eigentlich gar kein Kind kriegen, das Ganze sei eine extrem heikle Familienangelegenheit. Er behauptete, das Baby sei aus einer inzestuösen Beziehung hervorgegangen.« Dr. Bowdens Lippen schlossen sich auf eine Art, die keinen Zweifel daran ließ, wie unwohl er sich bei diesem Wort gefühlt hatte. »Er meinte, sie sei eine Art Liebling des alten Mr Joyce und wolle das Kind bekommen, ohne dass dieser etwas davon erfuhr. Dann wolle sie das Baby zur Adoption freigeben und ihren Job fortsetzen. Die mit der Zeugung verbundenen Erinnerungen wären zu schlimm, als dass sie es behalten wolle.«
Und das haben Sie geglaubt?, wollte ich schon fragen, wusste aber, dass ich sein Geständnis nicht unterbrechen durfte. Er gab bereitwilliger Auskunft als vermutet. Wahrscheinlich lastete diese Sache schon seit Jahren auf seiner Seele. Ich wunderte mich kurz, welche Biographie dieser Mann hatte, dass er auf so etwas reingefallen war. Natürlich durfte man auch die Geldgier nicht vergessen, die sein Verhalten beeinflusst hatte.
»Sie hatte gar keine Familie«, sagte Manfred, und nach einer Sekunde begriff Dr. Bowden die Tragweite von Manfreds Behauptung. Er starrte stur auf seinen Schreibtisch. Ich hätte Manfred am liebsten eine heruntergehauen, weil er ihn unterbrochen hatte. Andererseits hatte er bloß ausgesprochen, was ich ebenfalls dachte.
»Ich wusste es nicht mit Sicherheit«, murmelte Bowden. »Der Mann, der mich zur Ranch fuhr … Ich hielt ihn für Drexell Joyce, den Sohn. Ich dachte, das Kind wäre wahrscheinlich seines. Vielleicht schämte er sich, seinem Großvater zu gestehen, dass er seine Frau betrogen hatte. Er trug einen Ehering, und Ms Parish hatte keinen.«
»Hat sie mit Ihnen gesprochen?«, fragte ich.
»Wer?«
»Mariah. Hat sie mit Ihnen gesprochen?« Eigentlich eine ganz einfache Frage, aber Tom Bowden rutschte unruhig auf seinem schwarzen Ledersessel hin und her.
»Nein«, sagte er seufzend. Manfred hob einen Finger, knapp außerhalb meines Gesichtsfelds. Er glaubte dem Arzt nicht.
»Und was ist dann passiert?«, fragte ich, denn wir konnten die Wahrheit schlecht aus ihm herausprügeln.
»Ich säuberte die Frau, was mir allerdings nicht leicht fiel«, sagte Dr. Bowden. »Ich wollte einen Krankenwagen rufen und sagte das dem Mann auch, aber der meinte, das käme gar nicht infrage. Ich ging meinen Mantel holen, in dem mein Handy steckte, aber er hatte es bereits aus der Manteltasche gezogen und wollte es mir nicht geben. Ich musste die Patientin behandeln und hatte keine Zeit, mit ihm um das Handy zu streiten. Sie lag mehr oder weniger im Sterben. Selbst wenn ich sie innerhalb einer Stunde ins Krankenhaus geschafft hätte – und das nächste Krankenhaus war etwa eine Stunde mit dem Auto entfernt –, hätte sie nicht überlebt. Sie hatte eine schlimme Infektion.«
»Mit anderen Worten, sie ist in jener Nacht gestorben.«
»Ja. Etwa anderthalb Stunden nach meiner Ankunft starb sie. Sie konnte das Baby noch im Arm halten.«
Wir schwiegen einen Moment. »Und was ist dann passiert?«, fragte Manfred.
»Der Mann bat mich, das Baby zu untersuchen, und ich stellte fest, dass es gesund war. Sie hatte etwas Fieber, aber nichts Ernstes. Rein körperlich war alles mit ihr in Ordnung.«
»Das Baby war ein Mädchen.«
»Ja. Sie war winzig, aber bei der richtigen Behandlung würde es ihr gut gehen. Er fragte, ob ich alles dabei hätte, was sie brauche. Er würde das Kind direkt zu den Adoptiveltern bringen. Ich hatte tatsächlich einige Antibiotika dabei, Muster eines Pharmavertreters. Ich nannte ihm die Dosis und erklärte die Art der Verabreichung, und er brachte das Baby aus dem Zimmer. Das war das letzte Mal, dass ich es sah. Anschließend tat die Mutter den letzten Atemzug.«
Den letzten Atemzug. »Und was haben Sie anschließend gemacht?«
Er seufzte, als würde er beinahe unter dem Geständnis zusammenbrechen. »Ich sagte dem Mann, dass wir die Behörden verständigen und den Todesfall melden müssten. Wir haben uns ziemlich gestritten. Er schien nicht zu verstehen, dass wir vom Gesetz her dazu verpflichtet sind.«
Nachdem du es vorher schon so gebeugt hast, dachte ich. »Aber letztlich hat er in den Anruf eingewilligt?«
»Ja, solange ich das Baby nicht erwähnte. Das Bestattungsunternehmen kam also, um die junge Frau abzuholen, und ich stellte den Totenschein aus.« Er ließ die Schultern hängen. Jetzt, wo das Schlimmste gesagt war, konnte er sich entspannen.
»Sie sagten, sie starb an …?«
»An einer Infektion infolge eines Blinddarmdurchbruchs.«
»Und das hat niemand hinterfragt?«
Er zuckte die Achseln. »Es haben sich keine Familienangehörigen gemeldet. Die Joyces schickten mir einen Scheck, mit dem sie meine Rechnung beglichen – aber auch nicht mehr –, und wenn danach einer ihrer Arbeiter oder Angestellten krank wurde, kam er zu mir.«
Es war sehr schlau von ihnen gewesen, Dr. Bowden nicht offen zu bestechen. Ich war mir sicher, dass er eine ziemlich happige Rechnung gestellt hatte, und sie hatten sie ganz normal bezahlt. Das hatte den Arzt zufriedengestellt. Und da seine Praxis nicht sehr gut ging, hatten sie ihm einen dicken Knochen hingeworfen.
»Und warum sind Sie dann nach Dallas gezogen?«, fragte Manfred. Wieder hätte ich nicht davon angefangen, aber wieder unterschätzte ich den Mitteilungsdrang des Arztes.