»Wegen meiner Frau. Sie konnte Clear Creek nicht ausstehen«, sagte er. »Wobei ich dazusagen muss, dass sie dort auch niemand ausstehen konnte. Etwa vor sechs Jahren kam ich mit einem Arzt ins Gespräch, dem ich noch nie zuvor auf einem Ärztekongress begegnet war. Er besaß eine Praxis in Dallas und fragte, ob ich sie übernehmen wolle. Und zwar zum ursprünglichen Mietpreis, der deutlich niedriger war als das, was Mieter damals zahlen mussten. Die Ausstattung überließ er mir ebenfalls, weil er nach Übersee zog, um eine neue Stelle bei einem amerikanischen Konsulat in der Türkei oder so anzutreten.«
Merkte er denn wirklich nicht, was für ein abgekartetes Spiel das alles war?
»Ach du grüne Neune!«, entfuhr es Manfred. Er hätte fast noch mehr gesagt, hielt aber zum Glück den Mund.
»Danke«, sagte ich, nachdem mir keine weiteren Fragen mehr eingefallen waren. Aber dann gab es doch noch eine: »Oh, war heute eigentlich schon jemand da, der sich nach Mariah Parish erkundigt hat?«
»Äh … ja, in der Tat.«
Warum hatte ich bloß nicht daran gedacht, Fotos von den Joyces mitzunehmen? Bisher hatte ich mich ganz gut geschlagen für jemanden, der nichts von der Arbeit einer Detektivin verstand. Aber in diesem Punkt hatte ich einen Riesenfehler gemacht.
»Wer war es?«
»Er sagte, er heiße Ted Bowman.«
Und das klang natürlich kein bisschen wie Tom Bowden.
»Und er wollte …«
Tom Bowden wirkte nervös, besser gesagt, mehr als nervös. »Er hat mich genau dasselbe gefragt wie Sie, aber aus anderen Gründen.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich.
»Er schien die ganze Geschichte bereits zu kennen. Er wollte nur wissen, wie viel ich über die daran Beteiligten wusste.«
»Und was haben Sie ihm erzählt?«
»Ich sagte ihm, dass ich keine Ahnung hätte, wer mich zu dem Haus gebracht hat. Und dass das Baby, als ich es zum letzten Mal sah, gesund zu sein schien. Auch, dass ich mit niemandem sonst über jene Nacht gesprochen hätte.«
»Und was hat er dann gesagt?«
»Er meinte, das seien gute Neuigkeiten. Er hätte gehört, das Baby sei gestorben, freue sich aber, dass es überlebt hatte. Er meinte, ich solle jene Nacht lieber vergessen, woraufhin ich ihm sagte, dass ich schon seit Jahren nicht mehr daran gedacht hätte. Er warnte mich, dass mir andere dieselben Fragen stellen und bloß für Ärger sorgen würden, indem sie behaupteten, Mariah Parish wäre noch am Leben.«
»Und wie sollten Sie sich in diesem Fall verhalten?«
»Er meinte, ich solle in meinem eigenen Interesse lieber den Mund halten.«
»Aber Sie haben trotzdem mit uns gesprochen.«
Zum ersten Mal sah mir Tom Bowden in die Augen. »Ich bin es leid, dieses Geheimnis mit mir herumzutragen«, sagte er, und ich glaubte ihm. »Meine Frau und ich sind längst geschieden. Die Praxis läuft nicht sehr gut, und mein ganzes Leben hat sich anders entwickelt als erhofft. Seit jener Nacht ging es für mich nur noch bergab.«
Diesmal sagte er die Wahrheit, da war ich mir sicher. »Und wie sah dieser Mann aus?«, fragte ich.
»Er war größer als Ihr Freund hier« – Dr. Bowden nickte Manfred herablassend zu – »und deutlich gedrungener. Sehr muskulös, mit einem breiten Oberkörper. Dunkles Haar, etwa vierzig oder fünfzig Jahre alt. Schon ein wenig grau.«
»Irgendwelche erkennbaren Tätowierungen?«
»Nein, er trug eine Regenjacke«, sagte Dr. Bowden in einem Ton, als wäre das doch wohl das Selbstverständlichste von der Welt. Er schien sich wieder zu fassen. Schluss mit dem Gejammer. Ich überlegte, was ich ihn noch fragen konnte, bevor er endgültig verstummte. »Und Sie wissen wirklich nicht, wer Sie zur Ranch gefahren hat?« Ich tat mich schwer, das zu glauben, erst recht in einem so kleinen Ort wie Clear Creek. Und das sagte ich ihm auch.
Er zuckte die Achseln. »Ich lebte noch nicht lange dort, und die Leute von der Ranch blieben unter sich. Der Mann behauptete, für Mr Joyce zu arbeiten, und er fuhr einen Ranch-Truck. Vielleicht hat er mir sogar einen Namen genannt, doch ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Wie gesagt, ich hielt ihn für Drexell Joyce. Aber ich hatte Drexell nie kennengelernt, also kann ich das nicht mit Sicherheit sagen. Es war ein sehr anstrengender Abend.«
Und ob das ein anstrengender Abend gewesen war! Vor allem für Mariah Parish, deren Leben hätte gerettet werden können, wenn nur ein Krankenwagen gekommen wäre … Vorausgesetzt, jemand wäre so mitfühlend gewesen, einen zu rufen.
Ich staunte ein wenig, dass sie nicht direkt ermordet worden war und das Baby mit ihr. Damals hatte Rich Joyce noch gelebt, und vielleicht war es die Angst vor seiner Reaktion auf das Verschwinden der Pflegerin gewesen, die das verhindert hatte. Er hätte Mariah vermisst, wenn auch als Einziger. Und Rich Joyce hätte sicher nicht so schnell lockergelassen, wenn ihm etwas spanisch vorgekommen wäre.
Vielleicht hatte jemand das Kind zu sich genommen, um es später als Druckmittel zu benutzen. Vielleicht zog ein Ranch-Angestellter das Mädchen auf. Da gab es viele Möglichkeiten, und alle waren gleichermaßen wahrscheinlich.
»Wo war Rich Joyce an jenem Abend?«, fragte Manfred.
»Der Mann sagte nur, er wäre unterwegs«, meinte Bowden. »Sein Truck war nicht da.«
»Und er wusste nicht, dass seine Pflegerin schwanger war? Er hat nichts gemerkt?«
Bowden zuckte die Achseln. »Davon war nie die Rede. Keine Ahnung, was sie Mr Joyce erzählt hat. Bei manchen Frauen sieht man kaum etwas, und wenn sie es vor ihm verbergen wollte …«
Manfred und ich sahen uns an. Wir hatten keine weiteren Fragen mehr.
»Auf Wiedersehen, Dr. Bowden«, sagte ich und erhob mich. Er konnte seine Erleichterung nicht verbergen.
»Gehen Sie zur Polizei?«, fragte er. »Wissen Sie, selbst wenn man die arme Ms Parish exhumiert, lässt sich nicht mehr das Geringste feststellen.« Er bereute schon, mit uns gesprochen zu haben. Aber er war auch erleichtert. Dieser Kerl hatte in den letzten acht Jahren schlimme Gewissensbisse gehabt. Ich für meinen Teil gönnte es ihm.
»Das wissen wir noch nicht«, sagte Manfred nachdenklich. Er hatte genauso reagiert wie ich. »Das überlegen wir uns noch. Wenn dem Kind nichts passiert ist, dürfen Sie Ihre Approbation sicherlich behalten.«
Ein entsetzter Dr. Bowden starrte uns nach, während wir den Flur hinuntergingen und das Wartezimmer durchquerten. Darin saßen drei weitere Patienten, und sie taten mir leid. Ich fragte mich, welche Behandlung sie wohl erhalten würden – jetzt, wo der Arzt dermaßen verstört war. Er hatte heute gleich zwei Besucher gehabt, die wegen eines Vorfalls gekommen waren, den er am liebsten vergessen hätte. Das dürfte genügen, um jeden zu verstören, auch Menschen, die aus härterem Holz geschnitzt waren als Tom Bowden.
»Der Typ ist wirklich das Letzte!«, sagte Manfred, als wir im Lift standen. Er war unheimlich aufgebracht, und sein Gesicht war knallrot vor Wut.
»Ich weiß gar nicht, ob er wirklich so schlimm ist«, sagte ich und fühlte mich mindestens zehn Jahre älter als mein Begleiter. »Aber er ist schwach und eine echte Witzfigur, gemessen an seinem hippokratischen Eid.«
»Ich würde ja nichts sagen, wenn das in den Dreißigerjahren passiert wäre«, meinte Manfred zu meiner Überraschung. »Das klingt doch nach einer echten Schauergeschichte: Es klopft mitten in der Nacht, ein Fremder kommt und bringt dich zu einem geheimnisvollen Patienten in einem großen Haus. Und dann noch eine sterbende Frau, ein Baby, das Ganze unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit …«
Ich starrte Manfred an, während sich die Türen zum Erdgeschoss öffneten. Dasselbe hatte ich auch gedacht. »Glaubst du, er hat die Wahrheit gesagt? Wenn wir beide finden, dass er uns eine unglaubwürdige Geschichte erzählt hat, ist sie vielleicht auch unglaubwürdig. Vielleicht hat er uns bloß einen Haufen Lügen aufgetischt.«