»So gut lügen kann er auch wieder nicht«, sagte Manfred. »Obwohl einiges von dem, was er uns erzählt hat, natürlich gelogen war. Wie hat er es nur so weit gebracht? Ahnte er nicht, dass man ihm eines Tages Fragen stellen würde? Ganz dumm kann er doch nicht sein, er ist schließlich Arzt. Und ein Medizinstudium schafft wirklich nicht jeder. Seine Approbation hing dort an der Wand, ich habe sie mir angesehen. Ich werde das überprüfen. Vielleicht müssen wir wieder einen Detektiv einschalten.«
»Nein, auf keinen Fall. Wenn ich daran denke, was mit dem letzten passiert ist …«, konterte ich zynisch, bereute es jedoch gleich wieder. »Es tut mir leid, Manfred. Ich bin froh, dass du dabei warst. Vier Augen sehen mehr als zwei. Hast du ihm die Geschichte im Großen und Ganzen abgenommen? Du bist der Hellseher.«
»Ich habe ihm geglaubt«, sagte Manfred nach einem langen Schweigen. »Ich habe mir noch einmal alles durch den Kopf gehen lassen, und ich glaube, er hat uns die Wahrheit gesagt. Aber nicht die ganze Wahrheit. Er wusste beispielsweise, wer der Mann war, der ihn abholte. Und ich glaube auch nicht, dass der Mann sein Handy an sich genommen hat. Ich glaube, er sagte dem Arzt einfach, dass er kein Krankenhaus verständigen darf, und zwar in einem drohenden Ton. Das reicht schon, um einen Kerl wie Dr. Bowden zu überzeugen. Ich glaube auch, dass der Typ ihn vorgewarnt hat. Ärzte gehen heute nicht mehr mit riesigen Koffern auf Hausbesuch so wie damals, als meine Oma noch klein war. Ich glaube, Dr. Bowden wusste ganz genau, dass er Medikamente für eine Frau mitbringen musste, die gerade eine schwere Geburt gehabt hatte. Und welche für das Baby.«
Das klang vernünftig. »Du hast recht. Wer ist also deiner Meinung nach in den Ort gefahren, um den Arzt zu holen? Wer trat die geheimnisvolle Fahrt zum großen leeren Haus an? Wer brachte das Baby weg? Wer auch immer Dr. Bowden zur Ranch fuhr, er trug einen Ehering.«
»Ach ja, stimmt. Gut, dass du dich daran erinnerst. Nun, wir wissen, dass Drexell eine Zeitlang verheiratet war, dasselbe gilt für Chip. Es könnte einer von beiden gewesen sein oder jemand ganz anderes, den wir noch nicht kennen.«
Wir fuhren zurück zum Hotel und hielten unterwegs, um in einem Fastfoodlokal zu Mittag zu essen. Ich bestellte ein Sandwich mit gegrilltem Huhn und ließ die Pommes liegen. Ich versuchte, mich gesünder zu ernähren, denn dann fühlte ich mich besser. Wir sprachen nicht viel während des Essens. Keine Ahnung, was in Manfred vorging, aber ich versuchte, das Gefühl heraufzubeschwören, das ich empfunden hatte, als ich die Joyces auf dem Pioneer Rest Cemetery zum ersten Mal aus ihren Trucks steigen sah. Ich hatte geglaubt, sie schon mal irgendwo gesehen zu haben, zumindest die Männer. Wo könnte das gewesen sein? Vielleicht am Wohnwagen? Dort hatte es ein ständiges Kommen und Gehen gegeben … und ich hatte mit aller Macht versucht, den Besuchern aus dem Weg zu gehen.
Dem musste ich ein andermal auf den Grund gehen, denn als wir ins Hotel zurückkehrten, fanden wir dort einen völlig genervten Tolliver vor, was eher selten vorkommt. Er hatte versucht zu duschen. Als er seine Schulter mit einer Plastiktüte schützen wollte, war er gegen die Wand gestoßen. Das hatte wehgetan, außerdem war er sauer, weil ich so lange mit Manfred weg gewesen war. Er hatte sich vom Zimmerservice etwas zu essen bringen lassen, und dann hatte es ihn große Mühe gekostet, den Deckel von seinem Getränk zu entfernen und sein Besteck auszuwickeln. Er konnte schließlich nur eine Hand benutzen. Tolliver war eindeutig deprimiert, und obwohl ich bereit war, ihn zu knuddeln, um seine Laune zu heben, ärgerte ich mich, als er sagte, Matthew habe angerufen, um sich nach ihm zu erkundigen. Da ich Tolliver allein gelassen hatte, wollte Matthew noch vorbeikommen.
Ich war wütend auf Tolliver, und er war wütend auf mich – und das nur, weil ich mich von jemand anderem hatte begleiten lassen. Normalerweise ist Tolliver weder launisch noch reizbar noch unvernünftig. Heute war er alles auf einmal.
»Ach, Tolliver!«, sagte ich nicht gerade liebevoll. »Konntest du nicht einfach durchhalten, bis ich wiederkomme?«
Er starrte mich an, aber ich sah, dass es ihm bereits leidtat, mit seinem Vater gesprochen zu haben. Trotzdem, es war zu spät. Anscheinend hatte McDonald’s äußerst flexible Arbeitszeiten, denn kurz darauf klopfte Matthew an die Tür.
Als Matthew das Wohnzimmer betrat und zu seinem Sohn ging, während ich ihm die Tür aufhielt, sah ich ihm nach. Ich erstarrte, die Hand noch an der Klinke. Matthew war der Mann, den ich beim Verlassen des Gebäudes, in dem Dr. Bowdens Praxis war, beobachtet hatte. Er hatte die Lobby auf der anderen Seite verlassen, während wir sie gerade betreten hatten. Er trug dieselben Sachen, hatte denselben Gang und dieselbe Figur.
Manfreds Blick folgte dem meinen, und er riss die Augen auf. Er stellte mir eine stumme Frage. Kurz darauf schüttelte ich den Kopf. Es war sinnlos, ihn zur Rede zu stellen – zumindest konnte mein verwirrter Kopf im Moment keinen Vorteil darin erkennen.
Wenn Matthew zugab, dort gewesen zu sein, hätte er einfach behauptet, dort einen anderen Arzt, Anwalt oder Steuerberater aufgesucht zu haben, warum auch immer. Ich konnte ihm schließlich schlecht das Gegenteil beweisen. Aber seine Anwesenheit in Tom Bowdens Gebäude war mit Sicherheit kein Zufall.
Nicht im Traum wäre ich auf die Idee gekommen, Matthews Auftauchen im Leben seiner Kinder könnte etwas mit den Joyces zu tun haben.
Anstatt den drei Männern Gesellschaft zu leisten, ging ich ins Schlafzimmer und setzte mich auf die Bettkante. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand eine Autotür gegen die Beine geknallt, bevor ich ganz eingestiegen war. Ich zwang mich dazu, mich auf eine von den Dutzenden Möglichkeiten zu konzentrieren, die mir plötzlich durch den Kopf gingen. Für mich brach eine Welt zusammen, und mich in der neuen zurechtzufinden, war mir so gut wie unmöglich.
Mariah Parish war tot. Sie war bei der Geburt ihres Kindes gestorben.
Rich Joyce war tot. Man hatte ihn sozusagen zu Tode erschreckt.
Victoria Flores, die von Lizzie Joyce engagiert worden war, um Mariahs Tod zu untersuchen, war ebenfalls tot.
Parker Powers, der in dem Fall ermittelt hatte, war tot.
Mein Stiefvater war in der Arztpraxis gewesen, bei jenem Arzt, der anwesend war, als Mariah Parish starb.
Und was war wenige Monate nach der geheimnisvollen Geburt des geheimnisvollen Kindes vor acht Jahren noch passiert?
Meine Schwester Cameron war verschwunden.
16
Ich ging ins Bad und schloss mich ein. Ich klappte den Toilettendeckel herunter und setzte mich darauf. Ich ließ das Licht aus. Ich wollte mein Spiegelbild nicht sehen.
Matthew hatte irgendwas mit den Joyces zu tun, auch wenn ich nicht wusste, was. Außerdem war er Camerons Stiefvater. Und wenn ich mich nicht sehr täuschte, war Cameron, kurz nachdem Maria Parish ihr Kind geboren hatte, verschwunden. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass jemand aus unserer Familie etwas mit Camerons Verschwinden zu tun haben könnte. Als die Polizei meine Mutter, Matthew, Mark, Tolliver und mich befragt hatte, hatte ich getobt, weil sie kostbare Zeit verschwendete, die sie lieber darauf verwenden sollte, den oder die wahren Mörder zu finden.
Ich hatte ein paar Jungs von unserer Highschool verdächtigt, vor allem Camerons letzten Freund, der nicht gerade galant auf die Trennung reagiert hatte. Ich hatte Laurels und Matthews Junkiefreunde verdächtigt. Ich hatte Wildfremde verdächtigt, jemanden, der Cameron allein von der Schule heimgehen sah und beschloss, sie zu berauben/zu vergewaltigen/zu entführen. Ich hatte die Jungs in Verdacht, die uns manchmal nachgepfiffen hatten, wenn wir gemeinsam ausgegangen waren. Ich hatte mir Hunderte von Szenarien ausgemalt. Einige davon waren höchst unwahrscheinlich. Aber sie alle gaben mir eine mögliche Antwort auf das furchtbare Verschwinden meiner Schwester. Eine Antwort, die keinen Schmerz über den Verlust einer weiteren Person zur Folge hatte.