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«Ich hab Papa gesehen auf der Bank. «Daniel sagte das so leise und immer noch in ihre Achselhöhle hinein, dass sie für einen Moment glauben konnte, er habe eigentlich gar nichts gesagt.

«Ist gut, Daniel. Du musst jetzt schlafen. «Ihr Blick wanderte durch den Raum, die Wände entlang über Kinderposter und Regale mit Büchern und Spielsachen, über den ständig überfüllten Schreibtisch, auf dem Daniel durchführte, was er seine ›Experimente‹ nannte: Steine, die wochenlang in offenen Wassergläsern gelagert wurden; getrocknete Blätter und kleine Holzstücke, aus denen er ›Kohlenstickstoff‹ zu gewinnen hoffte; Muscheln aus dem Sommerurlaub, an deren scharfen Kanten sich Playmobil-Männchen ernsthafte Verletzungen zuzogen. Er hatte seinen Vater auf der Bank gesehen, so einfach war das. Ein einzelnes Puzzlestück, rein zufällig das letzte noch fehlende, das sie nur noch an seinen Platz legen musste, um das fertige Bild zu betrachten, aber dazu war sie in diesem Moment nicht in der Lage. Jürgen konnte jeden Moment nach Hause kommen. Sie zog Daniel näher zu sich heran, aber es half nicht.

«Auf der Bank beim Wehr. Ich hab ihn mit der Frau gesehen.«

«Schschsch«, machte sie und kam sich selbst schäbig vor. Gerade jetzt, da ihr Sohn endlich aussprach, was in ihm wütete, versuchte sie ihn zum Schweigen zu bringen. Tränen waren so wenig eine Entschuldigung wie ihre Müdigkeit.»Schschsch«, machte sie noch einmal. Ihre Füße wurden immer kälter. Sie nahm Daniel in den Arm, dessen Hitze auf der Stirn vielleicht nur dem Eindruck der Kälte ihrer Hände entsprang.

«Die haben geschmust. «Sie war ihm dankbar, dass er sich von ihrer Feigheit nicht vom Reden abhalten ließ. Ihr Sohn eben. Unten hörte sie die Haustür und das Geräusch von Jürgens Schlüsseln auf der Flurkommode. Sie überlegte, einfach liegen zu bleiben, bis sie selbst einschlief.

«Und hat er dich auch gesehen?«, fragte sie.

«Weiß ich nicht. Ich bin weggelaufen.«

Oder sollte sie nach unten gehen und ein paar Gegenstände zerschmeißen? Wie so oft empfand sie ihre Wut zuerst als den Reflex, den sie in ihr auslöste: den Drang, leise und kalt zu lachen. Sie gab Daniel einen Kuss auf die Stirn und dachte: Eigentlich hab ich es die ganze Zeit gewusst.

«Lasst ihr euch jetzt scheiden?«Er war mit seinen Gedanken schon wesentlich weiter als sie.

«Daniel, ich weiß nicht, was Papa gemacht oder was er sich dabei gedacht hat oder was wir jetzt als Nächstes tun werden. Das sind Dinge, die kann man nicht an einem Abend entscheiden. Da muss man viel reden, und jetzt, wo Grenzgang ist, hat dein Papa dafür keine Zeit.«

«Vielleicht hab ich mich verguckt«, sagte er.

«Nein, hast du nicht. Vielleicht hab ich mich verguckt, vorher. Jetzt kannst du nur eins machen, nämlich schlafen. Wer zwölf Kilometer laufen will, muss gut ausgeruht sein.«

«Fünfzehn Komma vier Kilometer.«

«Gute Nacht jetzt. «Sie küsste ihn noch einmal und stand auf, löschte das Licht neben der Tür und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie spürte, wie es begann: Dieses Gefühl, als würde die Welt von ihr abrücken, eine Gasse bilden, durch die sie mit leichtem Schwindelgefühl ging, als wäre sie betrunken. Der Flur war dunkel, nur von der Treppe drang Licht nach oben. Hans und Jürgen unterhielten sich draußen auf der Terrasse. Alles schien normal. Ein leichtes Pulsieren in den Schläfen. Sie ging ins Schlafzimmer und öffnete die Balkontür, nahm Kissen und Decke von Jürgens Bettseite und legte sie im Flur vor die Badezimmertür. Nahm aus der Kommode ein Betttuch und legte es oben auf den Haufen. Dann ging sie nach unten.

Zigarettenrauch zog durch die offene Terrassentür ins Wohnzimmer. Jürgen wandte ihr den Rücken zu und erzählte gerade von der Steigung auf dem ersten Wegstück morgen, dem Aufstieg zum Kleiberg.

«Über vierzig Prozent. Da machen dann schon die Ersten schlapp«, sagte er, bevor er Schritte hinter sich hörte und sich umdrehte. Kurz begegneten sich ihre Blicke. Sie hatte sich vorgenommen, ihn zu mustern, nach Spuren in seinem Gesicht zu suchen, nach etwas, was ihn verriet, aber dann sagte sie nur» Hi «und stellte sich einen Meter neben ihn in die offene Tür und fragte ihren Bruder:

«Hast du alles für heute Nacht? Ich leg mich jetzt hin.«

«Bin versorgt. «Die Flasche war schon zur Hälfte leer, aber sein Blick so klar wie bei seiner Ankunft am Nachmittag.

Geschmust, dachte sie. War das nicht, was Mütter und Söhne taten, ohne an irgendwem Verrat zu üben? Was fiel ihrem Mann ein, alles in den Dreck zu ziehen und auf Parkbänken mit Teenagern rumzumachen, als wäre er selbst noch einer? Und erst jetzt fiel ihr auf, dass Daniel ›die Frau‹ gesagt hatte, als wüsste er längst, um wen es ging und was gespielt wurde. Ihr neunjähriger Sohn, der schon Bescheid wusste, als sie noch verzweifelt versucht hatte, Jürgens Betrug durch Selbstbetrug zu unterstützen.

Sie sah ihm ins Gesicht, als erwartete sie Lippenstiftspuren auf seinen Wangen zu finden.

«Willst du deinem Sohn noch Gute Nacht sagen?«

«Lass es lieber«, sagte Hans.»Der Kleine ist heute …«

«Halt den Mund, Hans. Du verstehst nichts von Kindern. «Den Blick hielt sie auf das Gesicht ihres Mannes gerichtet, registrierte nur aus den Augenwinkeln, wie ihr Bruder die Schultern zuckte und das Glas zum Mund führte. Sie musste schnell wieder nach oben, dieses Schwindelgefühl wurde immer stärker.

«Nein, lass ihn schlafen. Ich komm auch gleich hoch. «Hätte er ihren Blick erwidert, sie wäre bereit gewesen — für den Moment jedenfalls —, an die Möglichkeit eines Irrtums zu glauben, wäre nach oben gegangen und hätte sein Bettzeug wieder zurückgeräumt. Hätte schlecht geschlafen und um des lieben Friedens Willen drei Tage lang gelächelt. Aber er sah in die Nacht. Sie nickte und ging, zählte drei Schritte, vier, fünf, sechs. Blieb stehen.

«Du — schläfst heute Nacht auf der Couch. «Dann ging sie weiter, die Treppe hinauf.

Meter für Meter kämpften sie sich den Marktplatz hinab, Daniel zerrte, und sie folgte, und manchmal kam es ihr vor, als würde sie von ihrem Sohn durch einen bösen Traum gezogen. Ein paar vereinzelte Regentropfen fielen. Kerstin hoffte, ein Platzregen werde niedergehen und die Menge auseinandertreiben, den ganzen Grenzgangsaufmarsch einfach fortspülen. Sie wollte nach Hause und schlafen. Daniel zog an ihrer Hand wie ein Hund an der Leine.

Die Musik setzte wieder ein, polterte vor ihnen den Gartenberg hinab. Kerstin erkannte Evi Endler, und die hob die Hand und winkte ihnen von einem kleinen freien Platz neben der Imbissbude.

«Wo wollt ihr denn hin?«

«Mein Sohn will was sehen.«

«Von hier sieht man bestens. «Sie hielt Tommy auf dem Arm, der reckte den Kopf, versuchte um die Ecke den Gartenberg hinaufzuschielen.

Dann standen sie endlich, Daniel ließ ihre Hand los und kletterte auf einen metallenen Mülleimer.

«Halt dich gut fest. Guten Morgen. Hallo Tommy. «Ein Schweißtropfen rann ihren Rücken hinab. Sie hielt ihr Lächeln auf dem Gesicht, während sie Tommy durchs Haar fuhr, nahm den Rucksack ab, atmete tief durch.

«Ganz schön früh für eine Familie, was?«Evi Endler stand auf den Zehenspitzen und hatte vor Aufregung rote Wangen. Ihr schmales Gesicht war weder hübsch noch hässlich, sondern auf liebenswerte Weise unauffällig. Die Regenjacke hatte sie sich um die Taille gebunden. Je näher die Musik rückte, desto aufgeregter wurde sie.