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Daniel war sofort eingeschlafen. Kurz stand sie in der Tür und widerstand dem Drang, ihn noch einmal zu küssen, wollte auch seine Bettdecke nicht mehr berühren, löschte das Licht und schloss die Tür. Horchte. Dann ging sie nach unten.

Natürlich kannte sie die Redensart: Eine Frage in den Raum stellen — neu war das Gefühl, einen Raum zu betreten, in dem schon eine stand. Gefolgt von seinem Blick ging sie weiter in die Küche, füllte sich an der Spüle ein Glas Wasser und kehrte zurück. Er saß auf dem Sofa, wie ein Patient jetzt, der gebeten worden ist, sich freizumachen, und dem nach dem ersten Knopf einfällt, dass er nicht versichert ist.

«Schläft er?«, fragte er. Nicht zurückgelehnt, sondern aufrecht in der Mitte der Sitzfläche.

Es brannte nur die Stehlampe hinter dem Sofa, außerdem das Licht in Flur und Küche. Der Raum gespiegelt in den dunklen Fensterscheiben, transparent und wie würfelförmig in den Garten gestellt. Möbel, durch die sich Rosen bohrten.

«Er hat sich verliebt«, sagte sie statt einer Antwort. Eine Bemerkung, die erstauntes Nachfragen verlangte, auf die er aber nur mit stummem Nicken reagierte, so als wäre es ein Subtext, den er vernommen hatte, eine codierte Beschuldigung und er geständig.

«Ich hol mir auch Wasser.«

Wartend saß sie auf der Armlehne des Fernsehsessels und trank. Wischte sich Schweiß von der Stirn. Nicht nur fühlte sie keinen Widerstand mehr, ihrem Mann zu verzeihen, sie hatte nicht einmal das Gefühl, dass es überhaupt etwas zu verzeihen gab. Nur das Schweigen und Beobachten wollte sie beenden, diese Blicke ohne Worte und ohne Zärtlichkeit. Es war Ungeduld, was sie Richtung Küche lauschen ließ. Jede Erklärung würde nur Zweifel wecken, würde Nachfragen erforderlich machen und die Aufmerksamkeit auf die kleinen Ungereimtheiten lenken, die alles Tun begleiten. Mit anderen Worten: Jede Erklärung würde sich selbst demontieren und zu ihrer eigenen Entkräftung werden. Wie wenn Religionslehrer versuchen Gott zu erklären.

Warum hast du das getan?!

Wollte sie wissen, wie es sich anfühlt, eine Zwanzigjährige zu küssen?

Zur gleichen Zeit hasste sie ihn für die Langsamkeit, mit der er zurückkam aus der Küche; im Esszimmer blieb er stehen, um einen Schluck zu trinken aus dem zu vollen Glas. Hasste ihn für die Vorsicht, mit der er darauf bedacht war, nichts zu verschütten auf dem verdammten Teppich, den sie zusammen aus dem Möbelgeschäft geschleppt hatten, sie links und er rechts, vor vier oder fünf Jahren.

«Was wir geredet haben in den letzten zwei Tagen, würde auf einen Bierdeckel passen«, sagte sie.

«Ich suche nach einem Weg, Entschuldigung zu sagen, der nicht bescheuert klingt.«

«Lass es bescheuert klingen.«

Statt sich wieder auf das Sofa zu setzen, blieb er in Reichweite stehen. Sie sah die erdigen Flecken an seinen Hosenbeinen und einen Blutfleck auf der rechten Socke. Sie streckte die Hand aus und erwartete ihn zurückweichen zu sehen. Bekam die Hose in der Höhe der Tasche zu fassen und zog ihn zu sich heran. Es war alles falsch. Der hohle Klang seines Glases auf dem Wohnzimmertisch, der Griff seiner Hand in ihr Haar, die ungerührte Mechanik seiner Erektion. Ein Krallen und Zerren gegen die eigene Lust begann. Das Geräusch von Stoff unter zu großer Belastung. Es war falsch sich zu fragen, ob Daniel auch wirklich schlief oder ihr Bruder sie hören würde. So falsch, es fühlte sich an wie Erlösung.

Sie brachte ihn aus dem Gleichgewicht durch ihr Ziehen an seinem Gürtel. Zwang ihn vor sich auf die Knie. Einen Augenblick lang sah sie ihre und seine gekrümmte Gestalt in der Wohnzimmerscheibe, die angedunkelten Hologramme ihres eigenen Tuns, wie durchsichtige Tiere. Sie rochen auch so, nach Fleisch und Wald und Mangel an Licht. Aber sie wollte ihn, zerrte ihn aus seiner Uniform und zog ihm das T-Shirt über den Kopf. Er riss an ihrer Hose. Besinnungslosigkeit war das Mindeste, wonach sie suchte. Ihr Biss traf seine Schulter, ihre Zunge drängte weiter in die haarige Fäulnis seiner Achseln. Egal wie, dachte sie. Auch ihre Lust schien durchsichtig zu sein, so farblos wie offensichtlich. Ohne nachzudenken, ohne eine Stellung zu suchen oder nach Halt zu fassen, ließ sie sich nach vorne fallen, und er nutzte den Moment, um ihren Slip zu zerreißen. Es war eine absurde, unbeholfene Gier, mit der sie übereinander herfielen. Zwischen Sofa und Wohnzimmertisch. Sie bekam Haare zu fassen, leckte ihn, wo sie ihn traf. Leckte ihm sein Keuchen von den Lippen. Biss darauf herum, bis ein schärferer Laut draus wurde. Beinahe hätte sie mit einem Lachen alles verdorben, dann endlich spürte sie seinen Schwanz, wie einen Hinweis darauf, was sie eigentlich taten. Sie saß auf ihm und drückte. Färbte Lust mit Schmerz. Atmete erst wieder aus, als er drin war in ihrem unbereiten Schoß.

Warum hast du das gemacht?!

Sein Stöhnen klang flach und heiser. Sie wollte ihm weh tun, krallte sich in sein Fleisch und hielt den Rücken steif. So fickten sie. Um alles oder nichts. Es war wie Liebe, reduziert auf diesen glühenden Kern aus Angst, und Kerstin hielt die Augen nicht geschlossen dabei, sondern zugepresst. Jürgen quetschte ihre Nippel viel zu hart.

Warum? biss sie in sein Handgelenk.

Sie wurden beide schneller, im Endspurt oder auf der Flucht, jedenfalls eine lange Gerade entlang und weg vom Ziel. Kerstin spürte die Niederlage, noch bevor sie die Augen wieder öffnete und die Kapitulation in Jürgens Gesicht sah. Bevor sie das Fehlen von Rhythmus spürte, die Panik. Was sie von ferne für einen Orgasmus gehalten hatte, wurde zu einer Luftspiegelung und Sodbrennen.

Dann Ekel.

Er hatte den Arm grotesk verdreht, um den Fuß des Sofas herum. Der andere sank langsam zu Boden. Ihr Zucken setzte in der Kehle ein statt im Schoß. Vergebens rann ein Schweißtropfen ihren Rücken hinab. Niemals zuvor hatte sie Wahrheit in so konzentrierter Form erlebt.

Nein, dachte sie. Nein, nein, nein. Aber es gab kein Entrinnen.

«Du hast dich nicht entschuldigt, und ich weiß auch warum. «Sie hatte nicht das Gefühl zu sprechen, aber es war ihre Stimme.»Weil es dir nicht leidtut.«

Sein Gesicht war klar und leer. Wie Schnee oder Glas. Schön auf eine Weise, die mit Form nichts zu tun hat. Vielleicht hatte sie ihn nie genauer betrachtet. Sie nahm sein Wasserglas vom Tisch, holte aus und schloss zum letzten Mal die Augen. Zum letzten Mal für immer.

* * *

«›Leistungen der sozialen Pflegeversicherung werden zur Verfügung gestellt, wenn Pflegebedürftigkeit vorliegt. Pflegebedürftig sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit …‹ Was ist denn der Unterschied zwischen geistigen und seelischen Krankheiten? Das klingt ja beinahe theologisch. «Kerstin blickt zu ihrem Sohn, aber der hört nicht zu, sondern verfolgt das Geschehen im Fernsehen, und zwar wie immer, wenn Reinhold Beckmann kommentiert, mit abgedrehtem Ton. Soweit seine Miene darüber Aufschluss gibt, interessiert er sich für die Fußball-Weltmeisterschaft kaum mehr als für das Infoblatt der AOK, aus dem seine Mutter ihm vorliest, um die drückende Stille im Wohnzimmer zu vertreiben und dem nervösen Hin und Her ihrer Gedanken den Anschein von Kohärenz zu geben. Für Fußball interessiert sie sich nicht. Die ans Hysterische grenzende Vorfreude, mit der sich monatelang das ganze Land auf das Großereignis WM 2006 eingestimmt hat, ist an ihr abgeperlt wie Wasser an Wachs. Aber nun zeigt sich, dass das Ereignis selbst und der Standort des einzigen Fernsehgeräts im Haus ihr eine Reihe von Abenden beschert, an denen Daniel sich nicht in seinem Zimmer verkriecht, sondern ihr im Wohnzimmer Gesellschaft leistet. Darum möge die WM gesegnet sein und so lange dauern, bis eines Tages sogar Franz Beckenbauer Falten bekommt.