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Sie wendet sich wieder ihrem Infoblatt zu:

«›… geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung Hilfe bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens benötigen. Diese gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen müssen den Bereichen der Körperpflege, der Ernährung, der Mobilität oder der hauswirtschaftlichen Versorgung zugeordnet werden können.‹ So, und jetzt sagst du mir bitte, ob das auf meine Mutter zutrifft oder nicht.«

«Trifft … nein. «Ganz knapp kullert der Ball am polnischen Tor vorbei. Jürgen Klinsmann wirft erst die Arme in die Luft und dann eine Flasche zu Boden und blickt ähnlich hilfesuchend zu seinem Assistenten wie Kerstin zu ihrem Sohn.

«Trifft zu«, sagt der.

«Sind wir die Weißen?«

«Nein. Die Weißen sind die sogenannten Klinsmänner. «Er sitzt im Sessel vor dem Fernseher, in einem roten T-Shirt mit drei rennenden Tomaten auf der Brust und dem Schriftzug Fast Food. Sein Gesicht sieht mitgenommen aus, seit er vor zwei Tagen von seinem Vater zurückgekommen ist, pickeliger als zuvor, aber seine Laune scheint sich stabilisiert zu haben in den versteppten Regionen knapp unterhalb der Sprachgrenze. Vorsichtige Nachfragen, ob am Hainköppel eine Art reinigendes Gewitter niedergegangen ist und wie der Besuch bei Endlers war, hat er mit schmalen Lippen und ohne Zuhilfenahme von Worten abgewiesen.

Null zu null lautet der Spielstand, nicht nur in Dortmund: Sie selbst fühlt sich auch unentschieden. Und gleichzeitig unter Hochspannung. Eine Schale Erdnüsse steht auf dem Tisch, und da Daniel keine Anstalten macht, welche zu essen, bedient sie sich selbst. Der Sommerabend weht lau zur Terrassentür herein, mischt Blütenduft unter das Aroma der frisch gegossenen Beete im Garten und kitzelt an ihren freiliegenden Nervenenden. Ein paar Falter flattern vor der Fensterscheibe. Sie hätte gerne einen Spaziergang gemacht die Hornberger Straße entlang, um ihre Nervosität abzuschütteln und vielleicht zufällig Karin Preiss zu treffen und das mit diesem Club noch mal in Ruhe zu besprechen, aber die raren Momente, in denen Daniel als eine Art Praktikant am Familienleben teilnimmt, gilt es auszukosten; notfalls durch Mitteilungen unter der Überschrift Kombinationsleistung — eine Information Ihrer Pflegekasse.

«Es gibt drei Stufen«, sagte sie mit vollem Mund.»Erhebliche Pflegebedürftigkeit, schwere Pflegebedürftigkeit und Schwerstpflegebedürftigkeit. Fragt sich also, ist meine Mutter erheblich oder schwer pflegebedürftig?«Sie erinnert sich an Doktor Petermanns Worte: Versuchen Sie’s ruhig gleich mit Stufe II. So arm, wie sie immer tun, sind unsere Pflegekassen gar nicht. Grundsätzlich scheint der Fall klar: Ihre Mutter kann nicht alleine kochen, sie wäscht ihre Wäsche nicht mehr selbst, kauft nicht für sich ein und wird seit März von Frau Kolbe vom ambulanten Pflegedienst einmal in der Woche gebadet — was, wenn nicht das, nennen Pflegekassen ›gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens‹? Sie lädt noch einmal Erdnüsse nach.»Für die erfte Stufe gibt’f ümmerhin eine Sachleistung von 384 Euro und eine Geldleiftung von 205 Euro. Üm Monat, nehm’ ich an. «Ihr üblicher Sinn für Vorsicht rät ihr, es erst einmal bei Stufe I zu belassen.

«Ich versteh nur Erdnuss.«

Kerstin spült mit einem Schluck Wasser nach.

«384 plus 205.«

«589. «

«Ist doch nicht schlecht. «Jedenfalls kann sie sich nicht vorstellen, dass die Kürzung ihres monatlichen Unterhalts im kommenden Jahr diesen Betrag übersteigen wird. Sie sieht zu ihrem Sohn und setzt zum hundertsten Mal seit seiner Rückkehr vom Hainköppel zu der Frage an, was er von der Aussicht hält, im nächsten Jahr einen Halbbruder oder eine Halbschwester zu bekommen. Ob es ihm peinlich ist oder egal oder ob er sich freut. Und zum hundertsten Mal unterlässt sie es, die Frage zu stellen. Sie würde den Ton ja doch nicht treffen. Wut kann sie inszenieren, wenn es ihr strategisch notwendig erscheint, aber Gleichgültigkeit gelingt ihr nie. Offenbar ist sie nie wirklich gleichgültig. Und wahrscheinlich fühlt sie sich deshalb immer häufiger so erschöpft.

Daniel schaut mit gelangweilter Konzentration auf den Bildschirm. Unablässig betasten seine Fingerspitzen die pusteligen Stellen an Wangen und Kinn, und sie muss sich sehr zusammenreißen, um nicht mit der Hand dazwischenzugehen.

«Seit wann magst du keine Erdnüsse mehr?«

«Acrylamid. Ist krebserregend.«

«Acrylamid entsteht beim Frittieren. Die Erdnüsse sind geröstet.«

«Trotzdem schlecht für die Haut.«

Ich habe die für dich gekauft! — sagt sie nicht, sondern:

«Seit wann so eitel?«

Er lässt ihre Frage ins Leere laufen, verfolgt reglos, wie der Ball ein weiteres Mal das Tor um Haaresbreite verfehlt und verschwitzte Spielergesichter sich zu Pantomimen der Verzweiflung verzerren. Ohne Ton wirkt die Emotionalität der Nahaufnahmen bizarr. Ein ganzes Stadion scheint zu leiden, inklusive der Bundeskanzlerin, aber kein Stöhnen ist zu hören, kein Fluchen und kein Winseln. Denn Daniel will es so. Schwarz-rot-goldene Fahnen wehen schweigend über vollbesetzte Ränge, Leute tragen fußballförmige Hüte und Kriegsbemalung, vollführen eine Mischung aus Karneval und Stammesritual und beginnen ekstatisch zu winken, wenn der siebte Sinn des modernen Menschen ihnen meldet, dass eine Kamera auf sie gerichtet ist.

Daniel zerreibt was zwischen seinen Fingern.

«Geistige Krankheiten sind Schädigungen des Gehirns«, sagt er,»zum Beispiel Omas Alzheimer. Seelische Krankheiten sind psychisch. Depressionen, Halluzinationen und der ganze Scheiß.«

«Aha.«

«So wie bei Computern: Hardwareprobleme und Softwareprobleme.«

«Oma hat also ein Hardwareproblem?«

«Festplatte. «Er tippt sich an den Kopf.

Sie unterdrückt die Frage, wo seine Probleme ihren Ursprung haben, und lehnt sich auf der Couch zurück. Und ihre eigenen? Seit am Nachmittag Frau Preiss angerufen und verkündet hat, dass sie am übernächsten Samstag diesem Etablissement namens Bohème einen Besuch abstatten werde, weiß sie überhaupt nicht mehr, wohin mit ihren Gedanken. Sie fühlt sich regelrecht verfolgt von ihrer eigenen Phantasie, dem Bild eines Haufens nackter Leiber, die sich auf einer Kunstrasenfläche ineinanderknäueln. Ein Pärchenclub! Wieso denkt sie über solche absurden Pläne überhaupt nach? Vermutlich ist sie beim Zappen im Spätprogramm dann und wann auf reißerische Reportagen gestoßen, hat den begeisterten Erfahrungsberichten dieser sogenannten Swinger zugehört und sich gefragt: Wer sind die?

Nun zeichnet sich die Antwort ab: Menschen wie Karin Preiss und sie. Das ist fast wahnsinnig genug, um für den Ekel zu entschädigen, der mit der Vorstellung eines wildfremden Busfahrers einhergeht, der lüstern Hand an sie legt. Vor einer verspiegelten Theke, belagert von halb bekleideten Männern und Frauen, die einander taxieren und zuzwinkern und irgendwann aufeinander zugehen und …

Du meinst das nicht ernst, hat sie am Telefon anstatt eines Nein gesagt.

Nur gucken und ein bisschen die Luft des Verruchten schnuppern. Die gespielte Naivität von Karin Preiss’ Antwort hat sie aufgebracht, amüsiert und gleichzeitig auf merkwürdige Weise beruhigt. Vielleicht gibt es einen Weg, der eigenen Neugierde zu folgen, ohne sich dem schmierigen Milieu provinzieller Lustoasen ganz und gar auszuliefern. Vielleicht besteht die Möglichkeit, an einem Samstagabend, an dem sich Bergenstadt den Grenzgangsvorbereitungen hingibt, für eine Stunde oder zwei die Leute anzuschauen, die sich an einem solchen Ort treffen. In Köln hat sie einmal mit Anita eine Party besucht, da kamen aus einem der Zimmer auch eindeutige Geräusche, und niemand hat sich daran gestört.