Nach dem Gespräch mit Bischof Moser in dessen verrauchter Stube mit den Klassikern und den Bibeln an den Wänden, mit dem Schreibtisch und den schweren Vorhängen, und nachdem auch Bruder Bibi, zeitunglesend (>Le Soir<) unter des Bischofs Fenster, sein Geld erhalten hatte, wäre der Weltkirchenrat am liebsten unverzüglich nach dem Boulevard Saint-Père gefahren; doch schlug es erst sechs von der Jesuitenkirche her am Place Guillaume, und so beschloß er, doch bis acht zu warten, wie es ausgemacht war, auch wenn er sich schmerzlich ausmalte, daß so Chloés Dienstmädchenexistenz um zwei unnötige Stunden verlängert wurde. Er nahm sich vor, noch heute mit ihr ins Ritz zu ziehen, traf auch die nötigen Anstalten, bestellte zwei Zimmer, eines im ersten und eines im fünften Stock, weder das Mädchen in Verlegenheit, noch sich als Weltkirchenrat in ein falsches Licht zu bringen. Dann versuchte er Maître Dutour aufzutreiben, leider vergeblich. Es hieß, der Advokat und Notar sei ausgegangen, eine Hausübergabe zu vollziehen. So hatte er denn mehr als anderthalb Stunden Zeit. Er bereitete sich vor, kaufte Blumen, erkundigte sich nach einem geeigneten Restaurant, ins alte alkoholfreie gegenüber dem Weltgesundheitsamt wünschte er nicht zu gehen, und auch >Chez Auguste< kam nicht gut in Frage, fühlte er doch mit geheimem Schmerz, daß er sich mit seiner eleganten Kleidung dort ausgeschlossen hatte. Was wollte er nun in einem Anzug O'Neill-Papperers neben dem Maillot jaune Monsieur Bielers! Er beschloß deshalb, wenn auch mit schlechtem Gewissen, im >Ritz< selber zu speisen, alkoholfrei natürlich, bestellte einen Tisch und begab sich mit freudiger Erwartung in die Passap-Ausstellung, die er zufällig in der Galerie Nadelör, dem >Ritz< gerade gegenüber, entdeckte, und die des Andrangs wegen auch abends besucht werden konnte. Es waren auch Passaps letzte Bilder ausgestellt (Winkel von 60°, Ellipsen und Parabeln), die Archilochos mit Begeisterung inmitten von Amerikanerinnen, Journalisten und Malern andächtig betrachtete, mit seinen Blumen (weiße Rosen) durch die hellen Säle wandernd. Doch stutzte er vor einem Bild in Kobaltblau und Ocker, auf welchem doch eigentlich nichts anderes als zwei Ellipsen und eine Parabel zu sehen waren. Er starrte das Bild entgeistert mit rotem Kopf an, die Blumen krampfhaft umklammernd, schoß mit einem Male davon, von panischem Entsetzen gepackt und schweißgebadet, auch von einem Schüttelfrost überfallen, und stürzte sich in ein Taxi, nicht ohne sich vorher bei Herrn Nadelör, der im schwarzen Smoking lächelnd und händereibend neben der Kasse stand, nach der Adresse des Malers erkundigt zu haben; worauf der Kunsthändler, ohne einen Mantel zu nehmen, Archilochos sogleich nachfuhr, auch mit einem Taxi, seine Prozente sicherzustellen, vermutete er doch einen geheimen Kauf. Passap wohnte in der Rue Funèbre in der Altstadt, die das Taxi (jenes mit Nadelör dicht hintendrein) über die Marschall-Vögeli-Allee erreichte, nur mit großer Mühe freilich, da die Anhänger Fahrcks' gerade eine Massenkundgebung veranstalteten, mit den Bildern des Anarchisten auf langen Stangen, mit roten Fahnen und riesigen Transparenten >Weg mit dem Staatspräsidenten!<, >Verhindert den Vertrag von Lugano!< usw. Irgendwo hielt Fahrcks selbst eine Rede. Tosendes Gebrüll und Gekreisch erfüllte die Luft, Pfiffe gellten, Pferdegetrampel, und wie nun die Polizei mit Gummiknütteln und Wendrohren zu hantieren begann, wurden auch das Taxi des Generaldirektors und jenes des Kunsthändlers begossen, der unglücklicherweise wohl aus Neugier ein Fenster geöffnet hatte. Doch bogen in diesem Augenblick beide Fahrzeuge mit ihren fluchenden Chauffeuren bei Vrener und Pott in die Altstadt ein. Die schlecht gepflasterten Straßen stiegen steil hinauf an baufälligen Häusern und Kaschemmen vorbei. In Scharen standen Dirnen herum, wie schwarze Vögel, winkten und zischten, und so kalt war es, daß sich die nassen Automobile schon längst mit Eis überzogen hatten. Vor Nummer dreiundvierzig (wo Passap wohnte), in der schlecht beleuchteten Rue Funèbre, stieg Archilochos, die weißen Rosen immer noch im Arm, denn auch aus einem Märchenfahrzeug, das mit funkelnden und klirrenden Eiszapfen behangen war, und hieß den Taxifahrer warten, von Straßenjungen umlagert, die sich an seine Hosenbeine klammerten, drang dann an einer bösartigen und betrunkenen Concierge vorbei ins Innere des alten, hohen Hauses und begann endlose Treppen zu steigen, die so morsch waren, daß sein Fuß einigemale durch die Stufen brach und er, ans hölzerne Geländer geklammert, im Leeren hing. Er stieg mühsam von Etage zu Etage, Sprießen in den schmerzenden Händen, fast im Dunkeln, forschte bei den alten Türen nach, ob Passaps Name irgendwo zu finden sei, den Atem Nadelörs hinter sich, den er immer noch nicht beachtete. Es war bitter kalt im Treppenhaus, irgendwo klimperte ein Klavier, und irgendwo schlug ein Fenster auf und zu. Hinter einer Tür kreischte eine Frau und johlte ein Mann, und es roch nach wüsten Orgien. Archilochos stieg immer höher, sank wieder einmal bis zum Knie ein, geriet in ein Spinnennetz, über seine Stirne lief ein dickes, halberfrorenes Ungeziefer, welches er ärgerlich fortwischte. Endlich fand er, den Pelzmantel von Vatti und das schöne neue Kleid von O'Neill-Papperer verstaubt und die Hosen schon aufgerissen, doch mit heilen Blumen, am Ende einer schmalen und steilen Estrich-Treppe quer auf einer wackligen Türe den Namen Passaps riesenhaft mit Kreide geschmiert. Er klopfte. Zwei Treppen weiter unten lauerte in der eisigen Kälte Nadelör. Keine Antwort. Er klopfte noch ein zweites, dann ein drittes, viertes Mal. Niemand. Der Weltkirchenrat drückte die Falle nieder, die Türe war unverschlossen, und er trat ein.
Es war ein unermeßlicher Estrich, in welchem er sich nun befand, eine Tenne beinahe, ein Balkengewirr mit verschiedenen Böden. Überall standen Negergötzen herum, überall aufgestapelte Bilder, leere Rahmen, Plastiken, seltsam gebogene Drahtgestelle, ein glühender Eisenofen mit einem überlangen, sich grotesk windenden Rohr, überall Wein- und Whiskyflaschen, ausgedrückte Tuben, Farbkübel, Pinsel, überall Katzen, und auf den Stühlen türmten sich Bücher und lagen auf dem Boden herum. In der Mitte des Raums stand Passap in einem offenbar einst weißen Malermantel, nun aufs farbigste bekleckst, und spachtelte an einem Bild auf der Staffelei herum, Parabeln und Ellipsen, während vor ihm, in Ofennähe, ein fettes Mädchen auf einem wackligen Stuhle saß, splitternackt, mit langen blonden Haaren, die Arme hinter dem Nacken verschränkt. Der Weltkirchenrat stand wie versteinert (sah er doch zum ersten Mal eine nackte Frau) und wagte kaum zu atmen.