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Kim Stanley Robinson

Grüner Mars

Für Lisa und David

Südpolregion des Mars:

Burroughs, 2100 n. Chr.

ERSTER TEIL

Areo-Formung

Es kommt nicht darauf an, eine neue Erde zu machen. Auch nicht ein anderes Alaska oder Tibet, nicht einmal ein Antarktika. Es gilt, etwas Neues und Fremdartiges zu schaffen, etwas, das dem Mars eigentümlich ist.

In gewissem Sinne spielen unsere Absichten keine Rolle. Selbst wenn wir versuchen würden, ein zweites Sibirien oder eine neue Sahara zu machen, würde das nicht gehen. Die Evolution würde es nicht zulassen. Im Grunde ist das ein Entwicklungsprozeß, ein Unterfangen, das unterhalb der Ebene von Absichten liegt, so wie das Leben seinen ersten geheimnisvollen Sprung aus der unbelebten Materie getan hat oder aus dem Meer aufs Land kroch.

Wiederum kämpfen wir im Mutterschoß einer neuen Welt, die diesmal wahrhaft fremdartig ist. Trotz der großen, langen Gletscher, die die gigantischen Überschwemmungen von 2061 hinterlassen haben, ist es eine sehr trockene Welt; und trotz der ersten Anfänge der Erzeugung einer Atmosphäre ist die Luft noch sehr dünn; und trotz der Anwendungen von Wärme liegt die Temperatur immer noch weit unter dem Gefrierpunkt. Alle diese Umstände machen das Überlebenfür organische Wesen äußerst schwierig. Aber das Leben ist zäh und anpassungsfähig. Es ist die grüne Kraft der Viriditas, die in das Weltall vorstößt. In der Dekade nach den Katastrophen von 2061 haben sich die Leute in den zerbrochenen Kuppeln und zerrissenen Zelten abgemüht, haben Dinge geflickt und Auswege gefunden. Und in unseren geheimen Verstecken ist das Werk des Aufbaus einer neuen Gesellschaft weitergegangen. Und draußen auf der kalten Oberfläche breiteten sich neue Pflanzen über die Hänge der Gletscher aus und hinab in die warmen Becken der Tiefe — in einer langsamen, unaufhaltsamen Woge.

Natürlich stammen alle genetischen Schablonen für unsere neuen Lebewesen von der Erde. Die Köpfe, die sie konstruiert haben, sind terrestrisch; aber das Terrain gehört dem Mars an. Und der Boden ist ein mächtiger genetischer Ingenieur, der bestimmt, was gedeiht und was nicht. Er treibt zunehmende Differenzierung voran und damit die Entwicklung einer neuen Spezies. Und im Laufe der Generationen entwickeln sich alle Mitglieder einer Biosphäre gemeinsam. Sie passen sich dem Terrain in einer komplexen kommunalen Reaktion an, in einer schöpferischen selbstkonstruktiven Geschicklichkeit. Dieser Prozeß liegt, gleichgültig, wie sehr wir uns einmischen, im wesentlichen außerhalb unser Kontrolle. Gene mutieren, und Kreaturen entwickeln sich. Es taucht eine neue Biosphäre auf und mit ihr eine neue Noosphäre. Und am Ende sind auch die Köpfe der Konstrukteure zusammen mit allem anderen für immer verändert…

Das ist der Prozeß der Areoformung.

Eines Tages stürzte der Himmel ein. Eisplatten krachten in den Teich und polterten dann auf den Strand. Die Kinder stoben auseinander wie erschrockene Schnepfen. Nirgal lief über die Dünen ins Dorf und platzte in das Gewächshaus mit dem Ruf: »Der Himmel stürzt ein, der Himmel stürzt ein!« Peter sprintete durch die Türen und über die Dünen, schneller, als Nirgal ihm folgen konnte.

Zurück am Strand stießen große Eisschollen in den Sand, und einige Brocken Trockeneis zischten im Wasser des Teiches. Als die Kinder sich alle um ihn gedrängt hatten, stand Peter mit zurückgeworfenem Kopf da und starrte auf die Kuppel hoch über ihnen. »Zurück ins Dorf!« schrie er in seinem absurden Ton. Auf dem Wege dorthin lachte er. Er krächzte: »Der Himmel stürzt ein!« und zauste Nirgals Haar. Nirgal errötete, und Harmakhis und Jackie lachten. Ihr gefrorener Atem schoß in raschen weißen Schwaden heraus.

Peter gehörte zu denen, die an der Seite der Kuppel hochkletterten, um sie zu reparieren. Er, Kasei und Michel krabbelten vor aller Augen über das Dorf, den Strand und dann den Teich, bis sie kleiner aussahen als Kinder, die in Schlingen hingen, die an Eishaken befestigt waren. Sie besprühten das Loch in der Kuppel, bis es zu einer neuen klaren Schicht gefror, die das weiße Trockeneis umhüllte.

Als sie wieder herunterkamen, sprachen sie von sich erwärmender Außenwelt. Hiroko war aus ihrer kleinen Bambushütte am Teich herausgekommen, um zuzusehen; und Nirgal sagte zu ihr: »Werden wir fortgehen müssen?«

»Wir werden immer fortgehen müssen«, erwiderte Hiroko. »Auf dem Mars wird nichts von Dauer sein.«

Aber Nirgal gefiel es unter der Kuppel. Am Morgen erwachte er in seinem runden Bambusraum hoch in Creche Crescent und lief mit Jackie und Rachel und Frantz und den anderen Frühaufstehern über die eisigen Dünen. Er erblickte Hiroko am gegenüberliegenden Ufer, die wie eine Tänzerin über ihrem nassen Spiegelbild schwebte. Er wollte zu ihr gehen; aber es war Zeit für die Schule.

Sie gingen ins Dorf zurück und drängten sich in die Kleiderablage der Schule. Sie hängten ihre Jacken auf und standen, ihre blau gefrorenen Hände über das Heizgitter gestreckt, da und warteten auf den Lehrer des Tages. Das könnte Dr. Robot sein; sie würden sich schrecklich langweilen, und sein Augenzwinkern würden sie wie die Sekunden auf der Uhr zählen. Es könnte die alte, häßliche Gute Hexe sein; und dann würden sie den ganzen Tag wieder im Freien sein und mit Spielsachen herumtollen. Oder es könnte die Böse Hexe sein, alt und schön; und sie würden den ganzen Morgen an ihren Pulten sitzen müssen und versuchen, auf russisch zu denken auf die Gefahr hin, einen Klaps zu bekommen, wenn sie kicherten oder einschliefen. Die Böse Hexe hatte silbernes Haar und eine krumme Nase, mit der sie aussah wie die Fischadler, die auf den Kiefern am Teich lebten. Nirgal fürchtete sich vor ihnen.

Darum verhehlte er wie die anderen seinen Mißmut, als sich die Tür öffnete und die Böse Hexe hereinkam. Aber an diesem Tag wirkte sie müde und ließ sie pünktlich hinaus, obwohl sie in Arithmetik nicht gut gewesen waren. Nirgal folgte Jackie und Harmakhis aus dem Schulgebäude und um die Ecke zu der Gasse zwischen Creche Crescent und der Rückseite der Küche. Harmakhis pinkelte gegen die Wand, und Jackie zog sich die Hosen herunter, um zu zeigen, daß sie das auch konnte. Gerade in diesem Moment kam die Böse Hexe um die Ecke. Sie zog sie alle am Arm aus der Gasse heraus. Nirgal und Jackie hatte sie mit ihren Krallen zusammengepreßt, und draußen auf der Plaza verprügelte sie Jackie und schrie die Jungen wütend an. »Ihr beide haltet euch von ihr fern! Sie ist eure Schwester!« Jackie weinte und krümmte sich, um ihre Hosen hochzuziehen. Sie sah, wie Nirgal sie anschaute, und versuchte, ihn und Maya mit dem gleichen wütenden Hieb zu treffen. Dabei fiel sie mit nacktem Hintern hin und heulte.

Es stimmte nicht, daß Jackie ihre Schwester war. Es gab in Zygote zwölf Sansei oder Kinder der dritten Generation, die sich wie Brüder oder Schwestern kannten, und viele von ihnen waren das auch, aber nicht alle. Das war verwirrend und wurde selten erwähnt. Jackie und Harmakhis waren die ältesten, Nirgal eine Saison jünger, und der Rest insgesamt noch eine Saison später geboren: Rachel, Emily, Reull, Steve, Simud, Nanedi, Tiu, Frantz und Huo Hsing. Hiroko war die Mutter von allen in Zygote, aber nicht in Wirklichkeit — nur von Nirgal und Harmakhis und sechs weiteren Sansei, sowie von etlichen erwachsenen Sansei. Kinder der Muttergöttin.

Aber Jackie war Esthers Tochter. Esther war wegezogen nach einem Streit mit Kasei, der Jackies Vater war. Nicht viele von ihnen wußten, wer ihr Vater war. Nirgal war einmal hinter einer Krabbe über eine Düne gekrochen, als Esther und Kasei darüber auftauchten. Esther weinte, und Kasei brüllte: »Wenn du mich verlassen willst, dann hau doch ab!« Auch er hatte geweint. Er hatte einen rosa Eckzahn. Auch er war ein Kind Hirokos. Mithin war Jackie Hirokos Enkelin. So ging das nun einmal. Jackie hatte langes schwarzes Haar und war die schnellste Läuferin in Zygote außer Peter. Nirgal konnte am längsten rennen und lief manchmal drei oder vier Mal hintereinander um den Teich, nur so. Aber Jackie war schneller im Sprint. Sie lachte die ganze Zeit. Wenn Nirgal einmal mit ihr stritt, pflegte sie zu sagen: »In Ordnung, Onkel Nirgie!« und lachte ihn an. Sie war seine Nichte, obwohl um eine Saison älter. Aber nicht seine Schwester.