Mit dem Blick auf dem Foto war das alles gesagt, jener wissende, zuversichtliche, redliche Glanz. Er konnte sich zu Zynismus wandeln, ohne Zweifel. Frank war der Beweis dafür. Es war möglich, diese Glut zu brechen oder zu verlieren. Und Zynismus konnte sehr ansteckend sein. Sie würden handeln müssen, ehe das geschah. Nicht zu früh, aber auch nicht zu › spät. Die Zeitplanung wäre am wichtigsten. Aberwenn sie es richtig abpaßten …
Eines Tages traf im Büro eine Nachricht von Hellespontus ein. Sie hatten ein neues Wasserreservoir entdeckt, sehr tief im Vergleich mit den anderen, sehr weit vom Becken entfernt und sehr groß. Diana vermutete, daß frühere Eiszeiten westlich der Gebirgskette von Hellespontus verlaufen sein und dort unter der Oberfläche zur Ruhe gekommen sein könnten — mehr als zwölf Millionen Kubikmeter, mehr als jedes andere Wasserlager. Damit stieg die Menge des lokalisierten Wassers von achtzig auf hundertzwanzig Prozent der Menge, die nötig war, um das Becken bis zur Linie von minus einem Kilometer zu füllen.
Das war eine aufregende Nachricht, und die ganze Schar des Hauptquartiers versammelte sich in Mayas Büro, um darüber zu diskutieren und es in den großen Karten einzutragen. Die Areographen trugen schon Routen der Pipelines über das Gebirge ein und debattierten über die relativen Vorteile verschiedener Arten von Rohrleitungen. Das Low-Point-Meer, im Büro ›der Teich‹ genannt, ernährte schon eine kräftige biotische Gemeinschaft, die auf der Nahrungskette des antarktischen Krills beruhte; und es gab am Boden eine sich ausdehnende Schmelzzone, die vom Mohole und dem zunehmenden Gewicht der vielen Tonnen Eis erwärmt wurde, die von oben drückten. Zunehmender Luftdruck und ständig steigende Temperaturen bedeuteten, daß auch an der Oberfläche immer mehr geschmolzen wurde. Damit gab es mehr freie Oberflächen und Erwärmung durch Licht und Sonnenschein, bis es zu Packeis und dann Trümmereis kam. An diesem Punkt würde frisch hineingepumptes Wasser, das korrekt gezielt war, um die Corioliskräfte zu verstärken, eine entgegen dem Uhrzeigersinn laufende Strömung in Gang setzen.
Sie redeten immer weiter darüber und trieben das Spiel immer noch weiter voran, bis sie schließlich loszogen, um mit einem üppigen Lunch zu feiern. Es war fast ein schockierender Anblick, wie die Corniche über der steinigen Ebene des leeren Beckenbodens stand. Aber heute würde man sich nicht durch die Gegenwart abschrecken lassen. Sie hatten beim Lunch eine Menge Wodka getrunken und gaben sich darum für den Rest des Nachmittags frei.
Als Maya dann wieder in ihr Apartment kam, war sie nicht recht in Form, mit dem Anblick von Kasei, Jackie, Antar, Art, Harmakhis, Rachel, Emily, Frantz und einigen Freunden von ihnen fertig zu werden, die sich alle in ihrem Wohnzimmer versammelt hatten. Sie waren auf der Durchreise bei einem Ausflug nach Sabishii, wo sie sich mit Freunden von Dorsa Brevia treffen wollten und dann nach Burroughs gehen, um dort einige Monate zu arbeiten. Sie gratulierten — bis auf Art — beiläufig zur Entdeckung des neuen Wasserlagers, waren aber nicht wirklich interessiert. Dies und die jähe Überfüllung ihres Apartments machten Maya mürrisch, und es half auch nicht, daß sie noch unter dem Einfluß des Wodkas stand oder daß Jackie so überschäumend war. Diese hatte ihre Hände zugleich über Antar (den ungeschlagenen Ritter des vorislamischen Epos, wie er ihr einmal verkündet hatte) und dem verdrießlichen Harmakhis, die sich beide unter ihrer Berührung räkelten, ohne daß es ihnen etwas auszumachen schien, ob sie sich mit dem anderen beschäftigte oder mit Frantz spielte. Maya ignorierte das. Wer wußte, welcher Perversion die Ektogenen fähig waren, die wie ein Wurf Katzen aufgezogen worden waren. Und jetzt waren sie Landstreicher, Zigeuner, Radikale, Revolutionäre oder was auch immer — wie Nirgal. Nur hatte dieser einen Beruf und einen Plan, während dieser Haufen — nun, sie zwang sich, mit ihrem Urteil zurückhaltend zu sein. Aber sie hatte ihre Zweifel.
Sie sprach mit Kasei, der gewöhnlich seriöser war als die jüngeren Ektogenen — ein grauhaariger reifer Mann, der im Aussehen, aber nicht in der Diktion, John etwas ähnlich war. Sein steinerner Eckzahn war entblößt wie ein Hauer, als er finster das Benehmen seiner Tochter ins Auge faßte. Unglücklicherweise steckte er diese ganze Zeit voller Pläne, die Welt von dem Kasei-Vallis-Komplex zu befreien. Offenbar hatte er die Rückverlegung von Korolyov in das Tal, welches seinen Namen trug, als eine Art persönlicher Kränkung empfunden; und der Schaden, den der Komplex durch ihren Überfall zur Rettung von Sax bewirkt hatte, hatte nicht genügt, ihn zu besänftigen. Er hatte ihm wohl nur Appetit auf mehr gemacht. Kasei war ein temperamentvoller, Unheil ausbrütender Mann — vielleicht war das von John gekommen —, obwohl er eigentlich nicht sehr wie John oder Hiroko war, was Maya liebenswert fand. Aber sein Plan, Kasei Vallis zu vernichten, war ein Fehler. Offenbar hatten er und Cojote ein Dechiffrierprogramm entwickelt, das alle Codes für Kasei Vallis geknackt hatte. Und nun plante er, die Wachen zu stürmen, die Bewohner der Stadt in Rover mit einem festen Kurs nach Sheffield zu sperren und dann alle Gebäude und Einrichtungen im Tal in die Luft zu jagen.
Das könnte klappen oder auch nicht, war aber in jedem Fall eine Kriegserklärung und ein sehr ernster Verstoß gegen die schroffe Strategie, die man eingehalten hatte, seit Spencer es geschafft hatte, Sax daran zu hindern, weiter Objekte aus dem Himmel zu schießen. Die Strategie bestand darin, einfach von der Oberfläche des Mars zu verschwinden. Keine Repressalien, keine Sabotage, niemanden anzutreffen in irgendwelchen Zufluchtsstätten, auf die sie zufällig stießen… Selbst Ann schien diesem Plan wenigstens einige Beachtung zu schenken. Maya erinnerte Kasei daran, während er seinen Plan hoch lobte. Sie ermunterte ihn, bei gegebener Zeit darauf zurückzukommen.
Kasei jammerte: »Aber dann würden wir bestimmt nicht in der Lage sein, die Codes zu knacken. Es ist eine einmalige Gelegenheit. Und es ist nicht so, als ob sie nicht wüßten, daß wir hier draußen sind nach dem, was Sax und Peter mit der Luftlinse und Deimos gemacht haben. Sie halten uns wahrscheinlich für noch größer, als wir sind.«
»Aber sie wissen es nicht. Und wir wollen diesen Eindruck von Geheimnis und dieser Unsichtbarkeit beibehalten. Unsichtbar ist unbesiegbar, wie Hiroko sagt. Bedenk aber, wie sehr sie die Präsenz ihrer Sicherheitstruppen erhöht haben, seit Sax losgeschlagen hat! Und wenn sie Kasei Vallis verlören, könnten sie eine riesige Streitmacht an dessen Stelle setzen. Und das macht es nur schwieriger, am Ende zu siegen.«
Kasei schüttelte hartnäckig den Kopf. Jackie kam quer durch den Raum dazwischen und sagte fröhlich: »Maya, mach dir keine Sorgen! Wir wissen, was wir tun.«
»Das ist etwas, worauf du stolz sein kannst. Die Frage ist: Was halten die anderen von uns davon? Oder bist du jetzt die Marsprinzessin?«
»Nadia ist die Marsprinzessin«, sagte Jackie und ging in den Küchenwinkel. Maya machte hinter ihr ein mürrisches Gesicht und merkte, daß Art sie merkwürdig ansah. Er zuckte nicht mit der Wimper, als sie ihn anstarrte; und sie ging in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Michel war dort, um aufzuräumen und Platz für Leute zu machen, die auf dem Fußboden schlafen sollten. Es dürfte eine ungemütliche Nacht werden.
Als Maya am nächsten Morgen früh aufstand, um ins Bad zu gehen, fühlte sie sich verkatert. Art war schon auf. Er flüsterte über die auf dem Boden schlafenden Körper: »Willst du ausgehen und Frühstück besorgen?«
Maya nickte. Als sie angezogen war, gingen sie die Treppen hinunter, durch den Park und über die Corniche, die in den horizontalen Strahlen der Morgensonne fahl aussah. Sie machten bei einem Cafe halt, das gerade seinen Abschnitt des Fußweges abgespült hatte. Auf der von der Dämmerung gefärbten weißen Wand des Hauses war mit einem Stift sauber, klein und leuchtend rot etwas geschrieben.