»Was geschah dann?«
»Er …« Zeyk breitete die Hände aus. »Er hatte einen Anfall. Er faßte sich an die Kehle, dann alle seine Muskeln…« Zeyk ballte die Fäuste. »Er verkrampfte sich und hörte auf zu atmen. Wir versuchten, ihn wieder zum Atmen zu bringen, aber vergeblich. Ich wußte nicht — Tracheotomie? Künstliche Beatmung? Antihistamine?« Er zuckte die Achseln. »Er starb in meinen Armen.«
Es herrschte ein langes Schweigen, während Maya zusah, wie Zeyk sich erinnerte. Seit jener Nacht in Nicosia war fast ein halbes Jahrhundert vergangen, und Zeyk war damals schon alt gewesen.
»Ich bin überrascht, wie gut du dich erinnerst«, sagte sie. »Meine eigene Erinnerung, selbst an Nächte wie diese… «
»Ich erinnere mich an alles«, sagte Zeyk düster.
»Er hat das entgegengesetzte Problem wie alle anderen«, sagte Nazik und sah ihren Gatten an. »Er erinnert sich an zu viel. Er schläft nicht gut.«
»Hmm.« Maya überlegte. »Was war mit den anderen zwei?«
Zeyk zog den Mund zusammen. »Das kann ich nicht sicher sagen. Nazir und ich haben den Rest der Nacht damit verbracht, uns mit Selim zu beschäftigen. Man diskutierte darüber, was mit seiner Leiche geschehen sollte. Ob man sie zur Karawane hinausschaffen und dann verheimlichen solle, was geschehen war, oder sofort die Behörden einschalten.«
Oder mit einem einzelnen toten Mörder zu den Behörden gehen, dachte Maya und beobachtete Zeyks beherrschte Miene. Vielleicht war auch darüber diskutiert worden. Er erzählte die Geschichte nicht in der gleichen Weise. »Ich weiß nicht, was wirklich mit ihnen geschah. Ich habe das nie herausgebracht. In jener Nacht waren viele von Ahad und Fetah in der Stadt, und Yussuf hatte gehört, was Selim gesagt hatte. Es hätten also ihre Feinde, ihre Freunde oder sie selbst sein können. Sie starben später in jener Nacht in einem Zimmer in der Medina. Gerinnungsmittel.«
Zeyk zuckte die Achseln.
Wieder Schweigen. Zeyk seufzte und füllte seine Tasse nach. Nazik und Maya lehnten ab.
»Aber seht ihr«, sagte Zeyk, »das ist bloß der Anfang. Das ist es, was wir gesehen haben und was wir dir zuverlässig mitteilen konnten. Danach… oje!« Er schnitt eine Grimasse. »Diskussionen, Spekulationen, Verschwörungstheorien jeder Art. Das übliche, nicht wahr? Es ist noch nie jemand einfach ermordet worden. Schon seit euren Kennedys kommt es immer darauf an, wie viele Geschichten man erfinden kann, um das gleiche Tatsachenmaterial zu erklären. Das ist das große Vergnügen bei der Verschwörungstheorie — nicht Erklärung, sondern Story. Es ist wie bei Scheherazade.«
»Du glaubst an keine dieser Geschichten?« fragte Maya und fühlte sich plötzlich hoffnungslos.
»Nein. Dafür habe ich keinen Grund. Die Ahad und Fetah hatten einen Konflikt. Das weiß ich. Frank und Selim standen irgendwie in Verbindung. Wie das Nicosia beeinflußte — ob es das tat…« Er atmete tief aus. »Ich weiß es nicht und sehe auch nicht, wie jemand das wissen könnte. Die Vergangenheit… Allah verzeih mir, die Vergangenheit schien ein Dämon zu sein, um hier meine Nächte zu peinigen.«
»Es tut mir leid.« Maya stand auf. Der helle kleine Raum wirkte plötzlich beengt und überladen. Sie erhaschte einen Blick auf die abendlichen Sterne in einem Fenster und sagte: »Ich werde draußen etwas Spazierengehen.«
Zeyk und Nazik nickten, und Nazik half ihr beim Anlegen des Helms. »Bleib nicht zu lange!« sagte sie.
Der Himmel war dicht bedeckt mit den gewöhnlichen eindrucksvollen Sternbildern. Am Westhorizont lag ein malvenfarbenes Band. Hellespontus ragte im Osten auf. Spätes Alpenglühen verlieh seinen Gipfeln ein tiefes Rosa, das an das Indigo darüber grenzte. Beide Farben waren so rein, daß die Übergangslinie zu vibirieren schien.
Maya ging langsam auf eine Erhebung in vielleicht einem Kilometer Entfernung zu. In den Ritzen unter ihren Füßen war etwas im Wachsen. Flechten oder darauf sitzendes Moos, deren Grün ganz schwarz erschien. Wo es ging, trat sie auf Steine. Pflanzen hatten es auf dem Mars schwer genug, ohne daß man auch noch darauf trat. Alles Lebewesen. Die Kühle der Dämmerung drang in sie ein, bis sie beim Gehen das X der Heizfilamente in den Hosen an ihren Knien fühlte. Sie stolperte und zwinkerte, um deutlicher zu sehen. Der Himmel war voller verschwommener Sterne. Irgendwo im Norden im Aureum Chaos lag der Körper von Frank Chalmers in einem Durcheinander von Eis und Sedimenten mit seinem Schutzanzug als Sarg. Getötet, während er die übrigen von ihnen davor rettete, hinweggespült zu werden. Allerdings würde er einer solchen Darstellung energisch widersprochen haben. Er würde hartnäckig erklären, daß es nur ein durch falsche Zeiteinteilung verursachter Unfall gewesen wäre. Es war aber das Resultat davon, daß er mehr Energie hatte als jeder sonst, Energie, die durch seine Wut genährt wurde — auf sie, auf John, auf UNOMA und alle Mächte auf der Erde. Auf seine Frau. Auf seinen Vater. Auf seine Mutter und sich selbst. Auf alles. Der zornige Mann. Der zornigste Mann, der je gelebt hatte. Und ihr Liebhaber. Und der Mörder ihres anderen Liebhabers, der großen Liebe ihres Lebens, John Boone, der sie vielleicht alle hätte retten können. Der für immer ihr Partner hätte sein können.
Und sie hatte sie gegeneinander gehetzt.
Jetzt war der Himmel schwarz und voller Sterne. Nur noch ein tief purpurnes Band war am westlichen Horizont verblieben. Mayas Tränen waren mit ihren Gefühlen dahin. Es war nichts mehr übrig als die schwarze Welt und ein schmaler Stich purpurner Bitterkeit, wie eine in die Nacht hinein blutende Wunde.
Manche Dinge muß man vergessen. Shikata ga nai.
Wieder in Odessa tat Maya das einzige, was sie mit dem tun konnte, das sie gelernt hatte, und vergaß es. Sie stürzte sich in die Arbeit am Hellasprojekt, verbrachte lange Stunden im Büro über Berichten und bestimmte Teams für die verschiedenen Bohr- und Baustellen. Mit der Entdeckung des westlichen Wasserlagers hatten die Wünschelrutengruppen an Dringlichkeit eingebüßt; und es wurde mehr Nachdruck auf das Anzapfen und Auspumpen der schon gefundenen Reservoire gelegt und die Infrastruktur der Siedlungen am Rande. So folgten Bohrmannschaften auf die Wassersucher. Nach diesen kamen Leute für Pipelines; und auf der ganzen Strecke gab es Zeltgruppen, sowie auf dem Reull-Canyon oberhalb Harmakhis, die den Sufis bei einer schlimm zerfressenen Canyonwand halfen. Auf einem zwischen Dao und Harmakhis gebauten Raumhafen trafen neue Immigranten ein. Diese zogen in das obere Dao und halfen bei der Umgestaltung von Harmakhis- Reull und auch bei der Errichtung der anderen neuen Kuppelstädte rings um den Rand. Das war eine massive logistische Aufgabe und entsprach in fast jeder Hinsicht Mayas altem Traum für die Entwicklung von Hellas. Aber jetzt, da es tatsächlich geschah, fühlte sie sich äußerst häßlich und einsam. Sie war sich nicht länger sicher, was sie für Hellas wollte oder für den Mars oder für sich selbst. Oft fühlte sie sich der Gnade der Flügel ihrer Launen ausgeliefert, welche in den Monaten nach dem Besuch bei Zeyk und Nazik (obwohl sie diese Zuordnung vermied) besonders heftig waren, eine unregelmäßige Schwankung zwischen Hochstimmung und Verzweiflung, wobei die Zeit der Ausgeglichenheit durch das Wissen verdorben wurde, entweder auf dem Weg nach oben oder nach unten zu sein.
Sie war in diesen Monaten oft unfreundlich zu Michel, oft gereizt durch seine Gelassenheit, die Art, wie er mit sich in Frieden zu sein schien und durch sein Leben trödelte, als ob seine Jahre mit Hiroko alle seine Fragen beantwortet hätten. Um eine Reaktion zu erzielen, sagte sie zu ihm: »Du bist schuld. Wenn ich dich brauchte, warst du nie da. Du hast nicht deine Pflicht erfüllt.«
Michel pflegte das zu ignorieren und besänftigte sie so lange, bis sie wütend wurde. Er war jetzt nicht ihr Therapeut, sondern ihr Liebhaber. Wenn man seinen Liebhaber nicht ärgerlich machen konnte, was für ein Liebhaber war er dann? Sie erkannte die schreckliche Verbindung, in der man steckte, wenn der Liebhaber auch der Therapeut war, so daß ein objektives Auge und eine besänftigende Stimme zu dem distanzierenden Verhalten eines professionellen Benehmens wurden. Ein Mann, der seinen Job tat — es war unerträglich, von einem solchen Auge beurteilt zu werden, als ob er allein über allem stünde und selbst keinerlei Probleme und Emotionen hätte, die er nicht beherrschen könnte. So etwas war zu mißbilligen. Und so (im Versuch zu vergessen): »Ich habe sie beide getötet! Ich habe sie eingefangen und gegeneinander ausgespielt, um meine eigene Macht zu stärken. Ich habe es vorsätzlich getan, und du warst überhaupt keine Hilfe! Es war alles auch dein Fehler!«