In der nördlichen Hemisphäre war es ziemlich genau so, wie Nachrichten und Mayas gelegentliche Reisen nach Burroughs besagten. Die großen nördlichen Dünen von Vastitas Borealis wurden rasch überschwemmt, da die wahrhaft enormen Reservoire unter Vastitas und der Polgegend auf die Oberfläche gepumpt wurden von Bohrplattformen, die mit dem Eis höher stiegen, wenn sich das Eis unter ihnen ansammelte. In den Nordsommern ergossen sich große Flüsse von der abschmelzenden Polkappe herunter, schnitten Kanäle durch die Sandschichten und liefen abwärts, bis sie sich mit dem Eis vereinigten. Und einige Monate, nachdem Minus Eins zur Insel geworden war, zeigten die Nachrichten ein Video von einem nackten Landstrich in Vastitas, der unter einer dunklen Flut aus Westen, Osten und Norden verschwand. Das schuf offenbar die letzte Verbindung zwischen den Eislappen. Also gab es jetzt ein die Welt umschließendes Meer im Norden. Natürlich war es noch lückenhaft und bedeckte nur etwa die Hälfte des Landes zwischen den sechziger und siebziger Breiten; aber nach Ausweis von Satellitenfotos gab es schon große Buchten aus Eis, die nach Süden in die tiefen Senken von Chryse und Isidis hineinreichten.
Die Überflutung des Restes von Vastitas würde noch ungefähr zwanzig weitere Marsjahre erfordern, da die Menge des zum Füllen von-Vastitas Borealis erforderlichen Wassers viel größer war als die für Hellas benötigte. Aber die Pumparbeiten da oben waren auch größer, so daß die Dinge zügig vorangingen. Und alle Sabotageakte der Roten konnten nur eine Kerbe in diesen Fortschritt schlagen. Tatsächlich beschleunigte sich der Fortschritt noch, trotz zunehmender Störversuchen, denn einige der neuen Bergbauverfahren, die angewandt wurden, waren recht radikal und wirkungsvoll. Die Nachrichtenprogramme zeigten ein Video der jüngsten Methode, die mit großen thermonuklearen Explosionen tief unter Vastitas arbeitete. Dadurch wurde der Permafrost auf großen Arealen geschmolzen und belieferte die Pumpen mit mehr Wasser. Auf der Oberfläche äußerten sich diese Sprengungen als plötzliche Eisbeben, welche das Eis an der Oberfläche in einen blasigen Matsch verwandelten. Das flüssige Wasser gefror schnell an der Oberfläche, pflegte aber darunter flüssig zu bleiben. Ähnliche Explosionen unter der nördlichen Polkappe bewirkten Fluten, die fast so stark waren wie die großen Ausbrüche von 2061. Und all dieses Wasser strömte in Vastitas hinunter.
Unten im Büro von Odessa verfolgte man all dies mit professionellem Interesse. Eine kürzliche Neuabschätzung der Menge von Wasser unter der Oberfläche hatte die Ingenieure von Vastitas ermuntert, ein endgültiges Meeresniveau sehr nahe beim genormten Wert anzustreben, dem früher in den Zeiten der Marsforschung aus dem Himmel festgesetzten NormalNull. Diana und andere Hydrologen in Deep Waters dachten, daß Senkung des Landes in Vastitas als Folge des Abbaus von Wasserlagern und von Permafrost dazu führen würde, daß sie dort am Ende ein Meeresniveau etwas unter der Norm haben würden. Aber da oben schienen sie zuversichtlich, daß sie das bei der Rechnung berücksichtigt hätten und die Marke erreichen würden.
Das Herumspielen mit verschiedenen Meeresniveaus auf einer Karte aus der KI des Büros machte es klar, welche Gestalt der kommende Ozean haben würde. An vielen Stellen würde die Große Böschung seine südliche Küstenlinie bilden. Das würde manchmal einen sanften Abhang bedeuten, im zerrissenen Gelände Archipele und an gewissen Stellen dramatische Meeresklippen. Angeschnittene Krater würden gute Häfen ergeben. Das Elysium-Massiv würde ein Inselkontinent werden und die Reste der nördlichen Polkappe ebenfalls. Das Land unter der Kappe war im Norden das einzige Gebiet gut oberhalb der Null-Kilometer-Kontur.
Ganz gleich, für welches Meeresniveau sie sich entschieden, ein großer südlicher Arm des Ozeans würde Isidis Planitia bedecken, das tiefer lag als der größte Teil von Vastitas. Und es wurden auch Reservoire in den Gebirgen um Isidis hineingepumpt. Es würde also eine große Bucht die alte Ebene füllen; und deswegen errichteten Bautrupps einen langen Deich in einem Bogen um Burroughs herum. Diese Stadt lag der Großen Böschung recht nahe; lag aber knapp unter der Normhöhe. Darum würde sie genau so eine Hafenstadt werden wie Odessa — eine Hafenstadt an einem die Welt umspannenden Ozean.
Der Deich, den sie um Burroughs bauten, war zweihundert Meter hoch und dreihundert Meter breit. Maya fand das Projekt, einen Deich zu errichten, um die Stadt zu schützen, beunruhigend, obwohl nach den Luftbildern klar war, daß es sich um ein weiteres pharaonisches Monument handelte, hoch und massiv. Es verlief hufeisenförmig mit beiden Enden oben auf dem Hang der Großen Böschung und war so groß, daß es Pläne gab, darauf Bauten zu errichten und einen modischen Lido daraus zu machen, mit kleinen Bootshäfen an der Wasserseite. Aber Maya erinnerte sich, wie sie einstmals in Holland auf einem Deich gestanden hatte mit dem Land auf der einen Seite, das niedriger war als die Nordsee auf der anderen. Das war ein sehr verwirrender Eindruck gewesen, mehr von Ungleichgewicht als Schwerelosigkeit. Und auf mehr rationaler Ebene war es so, daß Nachrichtenprogramme von der Erde jetzt zeigten, wie alle Deiche dort ständig durch einen ganz langsamen Anstieg des Meeresspiegels bis an die Grenzen beansprucht wurden infolge der zwei Jahrhunderte früher bewirkten globalen Erwärmung. Schon ein Anstieg um ein Meter gefährdete viele tiefliegende Gebiete der Erde; und der nördliche Ozean des Mars sollte im kommenden Jahrzehnt um einen vollen Kilometer steigen. Wer konnte sagen, daß sie imstande sein würden, das endgültige Niveau so fein hinzukriegen, daß ein Damm ausreichen würde? Mayas Arbeit in Odessa hatte sie gegenüber einer solchen Kontrolle mißtrauisch gemacht, obwohl sie es in Hellas natürlich auch selbst probierten und glaubten, es geschafft zu haben. Allerdings hatten sie es besser, da die Lage von Odessa keinen großen Fehlerspielraum ließ. Die Hydrologen sprachen auch davon, den ›Kanal‹, den die Luftlinse vor ihrer Zerstörung gebrannt hatte, als Ablauf in den nördlichen Ozean zu benutzen, falls ein solcher nötig sein sollte. Fein für sie, aber der nördliche Ozean würde keinen solchen Rücklauf haben.
»Oh«, sagte Diana, »sie pumpen jeden Überschuß immer in das Argyre-Becken.«
Auf der Erde wurden Revolten, Brandstiftung und Sabotage tägliche Waffen der Leute, die die Behandlung nicht bekommen hatten — die Sterblichen, wie man sie nannte. Um alle großen Städte entstanden ummauerte Siedlungen, Festungsvororte, wo jene, die die Behandlung bekommen hatten, ihr ganzes Leben verbringen konnten mit Benutzung von Fernverbindungen, Fernbedienungen, tragbaren Generatoren und sogar Gewächshausnahrung, ja sogar Luftfiltriersystemen. Faktisch wie in den Kuppelstädten auf dem Mars.
Eines Abends ging Maya, die von Michel und Spencer genug hatte, aus, um allein zu essen. Sie hatte oft das Bedürfnis, allein zu sein. Sie ging zu einem Eckcafe am Fußweg gegenüber der Corniche und setzte sich an einen Tisch im Freien unter Bäumen, die mit Lampions behängt waren. Sie bestellte Antipasto und Spaghetti und aß zerstreut, wozu sie eine kleine Karaffe Chianti trank und dem Spiel einer kleinen Band lauschte. Der Leader spielte eine Art Akkordeon mit lauter Knöpfen, ein sogenanntes Bandonion, und seine Kameraden spielten Violine, Gitarre, Piano und Baß. Eine Schar runzliger alter Männer, Burschen ihres Alters, tobten umher mit einer flotten Attacke durch melancholisch lustige Lieder — Zigeunermelodien, Tangos, alte Schmachtfetzen, die sie gemeinsam zu improvisieren schienen … Nach dem Essen blieb sie noch lange Zeit sitzen, hörte ihnen zu, genoß ein letztes Glas Wein und dann einen Kaffee. Sie sah den anderen beim Essen zu und hatte über sich die Blätter und hinter der Corniche die ferne Eislandschaft. Über Hellespontus wälzten sich Wolken heran. Sie versuchte so wenig wie möglich zu denken. Das funktionierte eine Weile, und sie machte einen wonnevollen Ausflug in ein älteres Odessa, in ein Europa des Geistes, das so süß und traurig war wie die Duette von Geige und Akkordeon. Aber dann fingen die Leute am Nebentisch an, darüber zu diskutieren, ein wie hoher Prozentsatz der Erdbevölkerung die Behandlung erhalten hätte — die einen meinten zehn Prozent, andere vierzig —, ein Zeichen des Informationskrieges oder einfach des Maßes an Chaos, das dort herrschte. Als sie sich von ihnen abwandte, bemerkte sie eine Schlagzeile auf dem Nachrichtenschirm über der Bar und las die Sätze, die von rechts nach links abrollten. Der Weltgerichtshof hatte seine Tätigkeit unterbrochen, um von Den Haag nach Bern umzuziehen; und Consolidated hatte die Gelegenheit dieser Unterbrechung genutzt, um gewaltsam die Besitztümer von Praxis in Kaschmir an sich zu bringen, was praktisch den Beginn eines Staatsstreichs oder Kleinkriegs gegen die kaschmirische Regierung von der Basis von Consolidated in Pakistan aus bedeutete. Indien würde natürlich mit hineingezogen werden. Und Indien hatte in letzter Zeit auch mit Praxis gute Geschäftsbeziehungen gepflegt. Indien contra Pakistan, Praxis contra Consolidated — der größte Teil der Weltbevölkerung nicht behandelt und verzweifelt…