Als Maya an diesem Abend nach Hause kam, sagte Michel, daß dieser Überfall für den Weltgerichtshof eine Hebung seines Ansehens bedeute, insofern Consolidated seine Aktion zeitlich auf den Umzug des Gerichts abgestimmt hätte. Aber angesichts der Verwüstung in Kaschmir und der Umkehrentwicklung für Praxis war Maya nicht in der Stimmung, ihm zuzuhören. Michel war so stur optimistisch, daß es ihr manchmal unklug erschien oder zumindest erschwerte, ihm nahe zu sein. Eines mußte man zugeben: Sie lebten in einer sich verdüsternden Situation. Der Zyklus von Wahnsinn kam auf der Erde wieder in Gang in seiner unerbittlichen Sinuswelle, einer Welle, die noch schlimmer war als die Mayas. Bald würden sie wieder in einem jener unkontrollierten Paroxysmen stecken und darum ringen, der Vernichtung zu entgehen. Das konnte sie fühlen. Sie erlebten einen Rückfall.
Maya machte sich zur Gewohnheit, regelmäßig in dem Eckcafe zu speisen, die Band zu hören und allein zu sein. Sie saß mit dem Rücken zur Bar; aber es war unmöglich, sich nicht Gedanken zu machen über die Erde, ihren Kurs und ihre Erbsünde. Sie versuchte zu verstehen, sie versuchte, es so zu sehen, wie Frank es gesehen hätte, und versuchte, seine Stimme zu hören, wie er es analysierte. Die Gruppe der Elf (die alte G-7 plus Korea, Azania, Mexico und Rußland) hatte noch nominell das Kommando über einen großen Teil der Macht der Erde in Form von Militär und Kapital. Die einzigen echten Konkurrenten für diese alten Dinosaurier waren die großen Metanationalen, die wie Athene aus den Transnationalen hervorgegangen waren. Die großen Transnationalen — und in der Ökonomie der zwei Welten war definitionsgemäß nur für etwa ein Dutzend von ihnen Raum — waren natürlich daran interessiert, Länder in der Elfergruppe zu übernehmen, wie sie es mit so vielen kleineren Ländern schon getan hatten. Die Metanationalen, die bei diesem Bemühen Erfolg hätten, würden wahrscheinlich das Spiel um die Vorherrschaft untereinander gewinnen. Darum versuchten einige von ihnen, die G-11 zu teilen und zu erobern. Dabei taten sie ihr Bestes, die Elf gegeneinander aufzuhetzen oder einige zu bestechen, um die Reihen zu brechen. In dieser ganzen Zeit konkurrierten sie gegeneinander, so daß, während einige sich mit G-11-Ländern verbündet hatten, um sie sich unterzuordnen, andere sich auf ärmere Länder oder die Babytiger konzentriert hatten, um deren Kraft zu stärken. So gab es ein komplexes Gleichgewicht der Kräfte. Die stärksten alten Nationen standen gegen die größten neuen Metanationalen; und die Islamische Liga, Indien, China und die kleineren Metanationalen existierten als unabhängige Kraftzentren und Mächte, über die man nichts voraussagen konnte. Somit war das Gleichgewicht der Kräfte wie jedes momentane Gleichgewicht zerbrechlich. Das mußte so sein, da die Hälfte der Erdbevölkerung in Indien und China lebte — ein Umstand, den Maya nie ganz glauben oder verstehen konnte. Geschichte war so seltsam; und man konnte nicht wissen, zu welcher Seite dieser Hälfte der Menschheit sich die Waage neigen würde.
Und natürlich warf das zuerst die Frage auf, warum es so viel Streit gab. Warum nur, Frank? dachte sie, während sie dasaß und den ergreifenden melancholischen Tangos lauschte. Was ist die Motivation dieser metanationalen Herrscher? Aber sie konnte sein zynisches Grinsen sehen aus den Jahren, da sie ihn gekannt hatte. Reiche haben lange Halbwertszeiten, hatte er ihr gegenüber einmal bemerkt. Und die Idee des Imperiums hat die längste Halbwertszeit von allen. Darum saßen da Leute herum und versuchten noch, Dschingis Khan zu sein und die Welt ohne Rücksicht auf die Kosten zu regieren — leitende Angestellte in den Metanationalen, Anführer in der Gruppe der Elf, Generale in den Armeen …
Nun hatte die Erde, wie ihr mentaler Frank ruhig und brutal zu verstehen gab, eine begrenzte Fassungskraft. Die Menschen hatten sie überzogen. Viele würden deshalb sterben. Das wußte ein jeder. Der Kampf um Rohstoffe war entsprechend verbissen. Die Kämpfer waren völlig rational. Aber verzweifelt.
Die Musiker spielten weiter. Ihre schroffe Nostalgie war im Verlauf der Monate noch bitterer geworden, und der lange Winter kam; und sie spielten im schneeigen Dämmerlicht, während sich die ganze Welt verdunkelte, entre chien et loup. In diesem so kleinen und mutigen Bandoniongewinsel, in diesen leichten Melodien, die allen entgegentönten, war normales Leben, an das man sich hartnäckig klammerte in einem Lichtfleck unter Bäumen mit kahlen Zweigen.
Diese Besorgnis war ihr so vertraut. So hatte man sich in den Jahren vor ’61 gefühlt. Obwohl sie sich nicht an irgendwelche einzelnen Ereignisse und Krisen der letzten Vorkriegsperiode erinnern konnte, konnte sie sich dennoch jenes Gefühls entsinnen, als ob es durch einen vertrauten Geruch angeregt würde. Wie nichts eine Rolle zu spielen schien, wie selbst die besten Tage blaß und kühl waren unter den schwarzen Wolken, die sich im Westen zusammenballten. Wie die Freuden der Stadt eine groteske verzweifelte Schärfe gewannen. Alle saßen sozusagen mit dem Rücken zur Bar und taten ihr Bestes, um einem Gefühl von Einschränkung und Hilflosigkeit entgegenzuwirken. O ja, das war echtes dejä vu.
Wenn sie dann durch Hellas reisten und mit Gruppen des Freien Mars zusammenkamen, war Maya den Leuten dankbar, die kamen und sich bemühten zu glauben, daß ihre Aktionen einen Unterschied bewirken könnten, selbst angesichts des großen Wirbels, der sich unter ihnen drehte. Maya erfuhr von ihnen, daß Nirgal, wohin er kam, offenbar gegenüber den anderen Eingeborenen darauf beharrte, daß die Lage auf der Erde für ihr eigenes Schicksal kritisch wäre, so groß die Entfernung auch scheinen mochte. Und das hatte Wirkung. Jetzt waren die Leute, die zu den Versammlungen kamen, voll von Nachrichten über Consolidated, Amexx und Subarashii und die jüngsten neuen Einfälle der UNTA-Polizei in das Gebirge des Südens, welche dazu gezwungen hatten, Overhangs und viele versteckte Zufluchtsstätten aufzugeben. Der Süden wurde entleert. Alle, die sich versteckt gehalten hatten, strömten nach Hiranyagarbha, Odessa oder in die Canyons von Ost-Hellas.
Einige der jungen Eingeborenen, die Maya traf, schienen zu denken, daß die Aneignung des Südens durch die UNTA im Grunde gut wäre, da sie den Countdown auslösen würde. Sie wandte sich sofort gegen solche Auffassungen und sagte ihnen: »Es sind nicht sie, die den Zeitplan bestimmen dürften. Das liegt bei uns, und wir müssen auf unseren Augenblick warten. Und dann alle zusammen handeln. Wenn ihr das nicht einseht…«
Dann seid ihr Narren!
Aber Frank hatte bei seinen Auftritten immer wild um sich geschlagen. Diese Leute brauchten etwas mehr — oder, um genauer zu sein, sie verdienten etwas mehr. Etwas Positives, etwas, das-sie ebenso zog wie antrieb. Frank hatte das auch gesagt, aber selten danach gehandelt. Sie mußten verführt werden wie die nächtlichen Tänzer an der Corniche. Wahrscheinlich waren diese Menschen an allen anderen Abenden der Woche draußen bei der Promenade an der Wasserfront. Und Politik mußte etwas von jener erotischen Energie hinzugewinnen, sonst handelte es sich nur um ressentiment und Schadensbegrenzung.