Also verführte Maya sie. Sie tat es selbst dann, wenn sie besorgt, erschrocken oder in schlechter Stimmung war. Sie stand zwischen ihnen und dachte an Sex mit diesen großen geschmeidigen jungen Männern; und dann setzte sie sich in ihrer Mitte hin und stellte ihnen Fragen. Sie sah ihnen in die Augen, ihnen, die so groß waren, daß sie, wenn sie auf einem Tisch saß, mit ihnen in Augenhöhe war, wenn sie auf Stühlen saßen. Sie verwickelte sie in eine Konversation, die so vertraulich und vergnüglich war, wie sie es nur machen konnte. Was verlangten sie vom Leben, vom Mars? Oft lachte sie laut auf bei ihren Antworten, überrascht durch ihre Harmlosigkeit oder ihren Witz. Sie hatten selbst schon von Marsbildern geträumt, die radikaler waren als alles, an das Maya glauben konnte. Von einem Mars, der wirklich unabhängig war, gleichmacherisch, gerecht und fröhlich. Und in mancher Weise hatten sie diese Träume schon verwirklicht. Viele von ihnen hatten jetzt ihre kleinen Bauten zu geräumigen kommunalen Apartments umgestaltet; und sie arbeiteten in ihrer alternativen Wirtschaft, die immer weniger Verbindung mit der Übergangsbehörde oder den Metanationalen hatte — einer Ökonomie, die beherrscht wurde von Marinas Öko-Ökonomie und Hirokos Areophanie, von den Sufis und Nirgal und diesem vagabundierenden Zigeunerregiment der Jungen. Sie hatten das Gefühl, für immer zu leben. Sie fühlten sich in einer Welt sinnlicher Schönheit. Ihre Gefangenschaft in Kuppeln war normal, aber nur ein Übergang. Eine Geborgenheit in warmen mesokosmischen Mutterschößen, auf die unausweichlich ihr Hinaustreten auf eine freie lebendige Oberfläche folgen würde — durch ihre Geburt, jawohl!
Sie waren embryonische Are-urgen, um Michels Ausdruck zu gebrauchen, junge Götter, die ihre Welt betrieben und wußten, daß sie frei werden sollten, und zuversichtlich waren, dahin zu kommen, und zwar bald.
Es kamen schlechte Nachrichten von der Erde, und der Besuch der Versammlungen stieg an. Und in diesen Meetings herrschte keine Stimmung von Angst, sondern von Entschlossenheit wie in der Miene von Frank auf dem Foto über ihrer Spüle. Ein Kampf zwischen den früheren Verbündeten Armscor und Subarashii um Nigeria führte zum Einsatz biologischer Waffen (beide Seiten lehnten die Verantwortung ab), so daß Menschen, Tiere und Pflanzen in Lagos und seiner Umgebung von schrecklichen Krankheiten heimgesucht wurden. In den Versammlungen jenes Monats sprachen die jungen Leute wütend und mit blitzenden Augen vom Mangel jeder Gesetzlichkeit auf der Erde, dem Fehlen jeglicher Autorität, der man vertrauen könnte. Die metanationale Weltordnung war zu gefährlich, als daß man ihr gestatten dürfe, den Mars zu beherrschen!
Maya ließ sie eine Stunde lang reden, ehe sie etwas anderes sagte als: »Ich weiß.« Und ob sie es wüßte! Ihr kamen fast die Tränen, wenn sie sah, wie entsetzt sie über Ungerechtigkeit und Grausamkeit waren. Dann nahm sie die Punkte der Erklärung von Dorsa Brevia einzeln vor und schilderte, wie ein jeder ausdiskutiert war und was er besagte und wie sich seine Verwirklichung in der realen Welt für ihr Leben auswirken würde. Die jungen Leute wußten darüber mehr als sie; und diese Teile der Diskussion feuerten sie mehr an als alles Jammern über die Erde. Weniger besorgt und mehr begeistert. Und bei dem Versuch, eine auf die Deklaration gegründete Zukunft zu schildern, brachte sie sie oft zum Lachen. Lustige Szenarien einer kollektiven Harmonie, alle zufrieden und glücklich. Sie kannten die ärgerliche gedrängte Realität ihrer gemeinsamen Apartments, und so war es wirklich lustig. Das Licht in den Augen lachender junger Marsmenschen — selbst Maya, die nie lachte, fühlte, wie ein leichtes Lächeln die unsichtbare Karte von Runzeln veränderte, die ihr Gesicht darstellte.
So pflegte sie dann die Versammlung zu beenden in dem Gefühl, daß eine gute Arbeit geleistet worden war. Wozu nützte schließlich eine Utopie ohne Freude? Was war der Sinn all ihres Bemühens, wenn es nicht das Lachen der Jungen einschloß? Dies war es, was Frank nie begriffen hatte, zumindest nicht in seinen späteren Jahren. Und so würde sie Spencers Sicherheitsmaßnahmen aufgeben und die Leute bei den Meetings aus ihren Zimmern führen, hinab zu den trockenen Küsten oder in Parks oder Cafes, um spazierenzugehen oder zu trinken oder ein spätes Mahl zu sich zu nehmen, in dem Gefühl, daß sie einen der Schlüssel zur Revolution gefunden hatte, einen Schlüssel, von dessen Existenz Frank nie gewußt, sondern sie nur vermutet hatte, wenn er John ansah.
»Natürlich«, sagte Michel, als sie nach Odessa zurückkehrte und versuchte, ihm davon zu erzählen. »Aber Frank hat überhaupt nicht an Revolution geglaubt. Er war ein Diplomat, ein Zyniker, ein Konterrevolutionär. Freude lag nicht in seinem Wesen. Für ihn war alles Schadensbegrenzung.«
Aber Michel war mit ihr in diesen Tagen oft entzweit. Er neigte dazu, zu explodieren, anstatt zu besänftigen, wenn sie erkennen ließ, daß sie einen Kampf brauchte; und das gefiel ihr so gut, daß sie feststellte, sie brauchte nicht annähernd so oft zu streiten. »Mach schon!« entgegnete sie auf seine Charakterisierung von Frank und schob Michel auf ihr Bett und vergewaltigte ihn, nur weil es Spaß machte und um ihn ins Reich der Freude zu ziehen und ihn zu zwingen, das zuzugeben. Sie wußte ganz genau, daß er es für seine Pflicht hielt, sie immer auf die mittlere Linie ihrer Stimmungsschwankungen zu drängen. Das konnte sie verstehen und schätzte den Halt, den er ihr zu geben suchte. Aber manchmal, wenn sie auf den Höhepunkt der Kurve zuraste, sah sie keinen Grund, diese kurzen Momente eines Flugs ohne Schwere nicht zu genießen, so etwas wie einen spirituellen Orgasmus … Und so griff sie nach seinem Penis und rubbelte ihn auf dieses Niveau und schaffte es, daß er eine oder zwei Stunden lang lächelte. Dann war es ihnen möglich, durch den Park in einer Stimmung von Entspannung und Frieden zum Cafe zu gehen und dort mit dem Rücken zur Bar zu sitzen und dem Flamenco-Gitarristen oder der alten Tangokapelle zu lauschen, die ihre piazzollas spielte. Sie plauderten beiläufig über die Arbeiten rund um das Becken. Oder sie redeten überhaupt nicht.
Eines Abends im Spätsommer des Jahres M-49 gingen sie mit Spencer zum Cafe hinunter und blieben während der langen Dämmerung sitzen bei der Betrachtung von dunkel-kupfrigen Wolken, die unter dem purpurnen Himmel unbewegt über dem fernen Eis glühten. Die vorherrschenden Westwinde trieben Luftmassen über Hellespontus, so daß sich dramatische Wolkenfronten über dem Eis aufbauten, die bald ein Teil ihres alltäglichen Lebens waren. Aber einige Wolken waren anders — metallische geschweifte feste Objekte wie steinerne Statuen, die nie von einem Wind einfach weggeblasen werden konnten. Von ihren schwarzen Unterseiten schossen Blitze auf das darunterliegende Eis.
Während sie diese eigenartigen Statuen beobachteten, hörten sie ein tiefes Dröhnen, und der Boden bebte leicht unter den Füßen, und das Besteck klapperte auf dem Tisch. Sie nahmen ihre Gläser und standen auf wie alle anderen in dem Cafe. In der bestürzten Stille sah Maya, daß alle automatisch nach Süden blickten, hinaus aufs Eis. Die Leute strömten aus dem Park zur Corniche und standen dann schweigend mit dem Blick nach draußen an der Kuppelwand. Dort im verschwindenden Indigo des Sonnenuntergangs unter den kupfernen Wolken konnte man soeben eine Bewegung erkennen, ein blinkendes Schwarz und Weiß am Rande der weißen und schwarzen Masse, das sich auf die Ebene zu bewegte. »Wasser«, sagte jemand am Nebentisch.
Alle bewegten sich wie unter einem Traktorstrahl mit den Gläsern in der Hand. Alle anderen Gedanken waren verschwunden, als sie an den Rand der Wasserfront kamen und vor der brusthohen Kuppelmauer standen und in die Schatten auf der Ebene blinzelten. Schwarz auf Schwarz, das mit weißen Flecken durchsetzt hin und her schwankte. Zum zweiten Mal erinnerte Maya sich wieder an die Marinerisflut und erschauerte. Die Erinnerung bedrängte sie wie Sodbrennen in der Speiseröhre. Die Säure benahm ihr fast den Atem und war sehr wirksam, diesen Teil ihrer Gedanken auszulöschen. Es war das Hellasmeer, das auf sie zukam — ihr Meer, ihre Idee, die jetzt den Hang des Beckens überschwemmte. Eine Million Pflanzen starb, wie Sax ihr ins Gewissen gerufen hatte. Die Ansammlung von Schmelzwasser bei Low Point war immer größer und größer geworden, hatte sich mit anderen Schmelzwasserlagern vereinigt und das mürbe Eis dazwischen und darum herum geschmolzen, erwärmt durch den langen Sommer, die Bakterien und die Dampfstrahlen von Explosionen, die man in dem umgebenden Eis ausgelöst hatte. Ein Eiswall im Norden mußte gebrochen sein, und jetzt schwärzte die Flut die Ebene südlich von Odessa. Der nächste Rand war nicht mehr als fünfzehn Kilometer entfernt. Jetzt war das meiste, was man vom Becken sehen konnte, ein pfeffer- und salzfarbenes Durcheinander, wobei sich der im Vordergrund dominierende Pfeffer zusehends immer mehr in Salz verwandelte. Das Land wurde in der gleichen Zeit heller, wie der Himmel dunkler wurde, was den Dingen ein unnatürliches Aussehen verlieh. Reifdämpfe stiegen vom Wasser auf und glühten in dem, was von Odessa selbst reflektiertes Licht zu sein schien.