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Jede Torschleuse konnte pro Minute hundert Personen durchlassen; aber das war bei weitem noch nicht schnell genug, wenn Tausende drinnen warteten und die Massen im Verlauf des Samstag morgens noch zunahmen. Die Masken waren unter den Leuten verteilt worden; und Nadia war sicher, daß inzwischen jeder eine hatte. Es war unwahrscheinlich, daß in der Stadt noch jemand nichts von der Notlage wußte. Darum ging Nadia zu Zeyk, Sax, Maya, Michel und allen anderen bekannten Personen, die sie sah, und sagte: »Wir sollten die Kuppelwand zerschneiden und dann losziehen. Ich werde mich daranmachen.« Niemand war dagegen.

Endlich erschien Nirgal. Er glitt durch die Menge wie der Gott Merkur bei einem dringenden Auftrag, lächelte breit und begrüßte einen Bekannten nach dem anderen, Leute, die ihn umarmen, ihm die Hand schütteln oder ihn wenigstens berühren wollten. Nadia sagte zu ihm: »Ich zerschneide jetzt gleich die Kuppelwand. Alle haben Masken, und wir müssen hier schneller herauskommen, als es durch die Tore möglich ist.«

Er sagte: »Eine gute Idee. Laß mich nur ansagen, was passiert.«

Und er sprang drei Meter hoch in die Luft, packte eine Mauerkappe des Betonbogens der Tores und schwang sich darauf, so daß er mit beiden Füßen auf dem drei Zentimeter breiten Streifen balancierte. Dann stellte er einen kleinen Schulterlautsprecher an, den er bei sich trug, und sagte: »Achtung, bitte! Wir fangen gleich an, die Kuppelwand zu zerschneiden, direkt über der Mauerkrone. Es wird also in Kürze eine nach außen gehende Brise zu spüren sein, nicht sehr stark. Die der Wand am nächsten befindlichen Leute natürlich zuerst. Es wird hierbei nicht nötig sein, sich zu beeilen. Wir werden ausgiebig schneiden; und jeder sollte in der nächsten halben Stunde aus der Stadt heraus sein. Seid bereit für die Kälte! Die wird sehr erfrischend sein. Bitte, legt eure Maske an und kontrolliert, ob sie dicht ist bei euch wie auch bei den Leuten um euch herum!«

Er schaute zu Nadia hinunter, die aus ihrem schwarzen Rucksack ein kleines Laserschneidgerät geholt hatte und es Nirgal zeigte. Sie hielt es über den Kopf, damit viele Leute es sehen konnten.

»Sind alle bereit?« fragte Nirgal über seinen Lautsprecher. Alle in der Menge sichtbaren Leute hatten eine weiße Maske über dem unteren Teil ihres Gesichts. »Ihr seht aus wie Banditen«, sagte Nirgal zu ihnen und lachte. Dann rief er »Okay!« mit Blick auf Nadia.

Und sie zerschnitt den Stoff der Kuppel.

Ein vernünftiges Verhalten, um zu überleben, ist fast so ansteckend wie Panik, und die Evakuierung verlief schnell und geordnet. Nadia schnitt ungefähr zweihundert Meter von dem Stoff ein, direkt oberhalb der Betonkappe; und der höhere Luftdruck innen bewirkte einen hinausgehenden Luftstrom, der die transparenten Schichten der Kuppelbespannung hoch und von der Einfassung weg hielt, so daß die Leute über die hüfthohe Mauer klettern konnten, ohne sich darum kümmern zu müssen. Andere schnitten den Stoff bei den westlichen und südlichen Toren auf; und in ungefähr der Zeit, die erforderlich ist, um ein großes Stadion zu entleeren, war die Bevölkerung von Burroughs aus der Stadt heraus und in der kühlen frischen Luft eines Morgens auf Isidis: 350 Millibar Druck, 261 K oder –12 °C Temperatur.

Zeyks Araber blieben in ihren Rovern und dienten als Eskorte, indem sie vorwärts und rückwärts fuhren und die Leute zu der Hügelkette führten, die ein paar Kilometer südwestlich der Stadt lag und Moeris-Berge hieß. Das Wasser der Flut erreichte die östliche Seite der Stadt, als die letzten Nachzügler diese Reihe niedriger Buckel in der Ebene erreichten und Beobachter der Roten, die in eigenen Rovern weit umherstreiften, meldeten, daß die Flut jetzt nördlich und südlich um die Basis der Stadtmauer liefe, in einem Schwall, der weniger als einen Meter tief war.

Es war also eine äußerst knappe Situation gewesen, knapp genug, um Nadia erschauern zu lassen. Sie stand oben auf einem der Moerishügel und schaute sich um, damit sie sich ein Bild der Lage verschaffen konnte. Die Leute hatten ihr Bestes getan, waren aber ihrer Meinung nach ungenügend bekleidet. Nicht jeder hatte isolierte Stiefel, und nur sehr wenige hatten viel auf dem Kopf. Die Araber stiegen aus ihren Rovern, um den Leuten zu zeigen, wie man mit Schals oder Handtüchern oder Extrajacken über den Köpfen Burnuskapuzen improvisieren konnte. Und das mußte genügen. Aber es war draußen kalt, sehr kalt trotz Sonne und Windstille; und die Bürger von Burroughs, die nicht außerhalb der Kuppel gearbeitet hatten, machten ein entsetztes Gesicht. Einige waren allerdings in besserer Verfassung als andere. Nadia konnte neu Angekommene aus Rußland an ihren warmen Kopfbedeckungen erkennen, die sie von daheim mitgebracht hatten. Sie begrüßte diese Leute auf russisch, und sie grinsten fast immer und riefen: »Das ist gar nichts. Es ist gutes Wetter zum Schlittschuhlaufen, da?«

»Bleibt in Bewegung!« sagte Nadia zu ihnen und zu allen anderen. Man erwartete, daß es am Nachmittag wärmer würde, vielleicht bis über den Gefrierpunkt.

Innerhalb der dem Untergang geweihten Stadt ragten die Mesas starr und dramatisch in das Morgenlicht wie ein titanisches Museum von Kathedralen. Die Fensterreihen waren wie Juwelen, und das Blattwerk auf den Gipfeln bildete kleine grüne Gärten. Die Bevölkerung der Stadt stand in der Ebene, maskiert wie Banditen oder Heuschnupfenpatienten, dick in Kleider gewickelt, manche in knappen beheizten Schutzanzügen und ein paar mit Helmen für späteren Gebrauch im Bedarfsfall. Der ganze Pilgerzug stand da und schaute auf die Stadt zurück. Menschen auf der Oberfläche des Mars, die Gesichter der kalten dünnen Luft ausgesetzt, die Hände in den Taschen, über ihnen hohe (Zirruswolken wie Metallspäne vor dem dunkelroten Himmel. Die Fremdartigkeit des Anblicks war zugleich erheiternd und erschreckend. Nadia ging an der Hügelreihe auf und ab und sprach mit Zeyk, Sax, Nirgal, Jackie und Art. Sie schickte sogar noch eine Nachricht an Ann in der Hoffnung, daß sie die bekommen würde, obwohl sie nie antwortete. »Vergewissere dich, daß die Sicherheitstruppen am Raumhafen keine Schwierigkeiten machen!« sagte sie, unfähig, den Ärger aus ihrer Stimme fernzuhalten. »Bleibt ihnen aus dem Wege!«

Ungefähr zehn Minuten später piepste das Armband. »Ich weiß«, sagte Anns Stimme knapp. Und das war alles.

Jetzt, da sie aus der Stadt heraus waren, fühlte Maya sich frohgemut. Sie rief: »Laßt uns losmarschieren! Bis zum Libya-Bahnhof ist es ein weiter Weg, und der halbe Tag ist schon vorbei.«

»Stimmt«, sagte Nadia. Und viele Leute waren schon aufgebrochen, stapften über die Piste, die vom Südbahnhof von Burroughs ausging, und folgten ihr den Hang der Großen Böschung hinauf.

Sie ließen die Stadt hinter sich. Nadia blieb oft stehen, um den Leuten Mut zuzusprechen, und schaute ebenso oft nach Burroughs zurück, auf die Dächer und Gärten unter der transparenten Blase des Zeltes im mittäglichen Sonnenschein, hinab in diesen grünen Mesokosmos, der so lange die Hauptstadt ihrer Welt gewesen war. Jetzt war rostig-schwarzes und von Eis geflecktes Wasser schon fast um die ganze Stadtmauer gelaufen; und ein dicker Strom schmutziger Eisberge trieb von der niedrigen Lücke nach Nordosten und ergoß sich in einem sich verbreiternden Schwall auf die Stadt zu. Er erfüllte die Luft mit einem Donnern, das die Haare im Nacken zu Berge stehen ließ. Ein Getöse wie damals in Marineris …

Das Land, über das sie gingen, war mit zerstreuten niedrigen Pflanzen übersät, zumeist Tundramoos und alpine Blumen mit gelegentlichen Gruppen von Eiskakteen, die wie stachlige schwarze Feuerhydranten dastanden. In der Luft schwirrten Mücken und Fliegen, die durch die fremde Invasion aufgescheucht worden waren. Es war merklich wärmer als am Morgen. Die Temperatur stieg rasch an. »Zweihundertzweiundsiebzig!« rief Nirgal, als Nadia ihn im Vorübergehen fragte. Er kam alle paar Minuten vorbei. Er lief an den Leuten vom einen Ende der Reihe bis zum anderen hin und her. Nadia sah auf ihr Handgelenk: 272 K. Der Wind war schwach und kam aus Südwesten. Die Wetterberichte sagten, daß eine Zone hohen Luftdrucks noch mindestens einen Tag über Isidis verweilen würde.