»Bist du sicher?«
»Nein. Sie sagen es ja nicht. Aber ich bin ziemlich sicher.«
»Ist das gut?«
»Theoretisch nicht. Aber in der Praxis ist es gut, wenn jemand es auf dich abgesehen hat, daß sie sich als Freunde verhalten. Und die Schweizer sind gute Freunde. Dies ist das fünfte Mal, daß sie für eine Persona einen Paß ausgestellt haben. Ich besitze sogar selbst einen und bezweifle, daß es ihnen gelungen ist herauszufinden, wer ich wirklich bin, weil ich nie erkennungsdienstlich erfaßt wurde wie ihr von den Ersten Hundert. Interessant, meinst du nicht auch?«
»Doch.«
»Das sind interessante Leute. Sie haben ihre eigenen Pläne, die ich nicht kenne. Aber ich mag sie. Ich glaube, daß sie beschlossen haben, uns zu decken. Vielleicht wollen sie bloß wissen, wer wir sind. Das werden wir nie genau erfahren; denn die Schweizer lieben ihre Geheimnisse sehr. Aber es macht nichts aus, warum, wenn man weiß wie.«
Sax zuckte bei diesem Gefühl zusammen, war aber froh über den Gedanken, daß er unter Schweizer Schirmherrschaft sicher sein würde. Sie waren Leute von seiner Art — rational, vorsichtig und methodisch.
Einige Tage, bevor er sich aufmachte, um mit Peter nach Burroughs zu fliegen, machte er einen Spaziergang rund um den Teich von Gamete, was er während seiner Jahre dort nur selten getan hatte. Der Teich war wirklich ein sauberes Stück Arbeit. Hiroko war eine tüchtige Systemplanerin. Als sie und ihr Team vor so langer Zeit aus Underhill verschwunden waren, war Sax völlig verwirrt gewesen. Er hatte nicht begriffen, warum, und sich lange Sorgen gemacht, daß sie anfangen würden, irgendwie gegen das Terraformen zu kämpfen. Als es ihm gelungen war, eine Reaktion Hirokos dem Netz abzuringen, war er teilweise beruhigt. Sie schien dem Ziel des Terraformens im Grunde nicht abgeneigt zu sein, und ihre besondere Vorstellung von Viriditas war wohl nur eine andere Version des gleichen Themas.
Aber Hiroko schien die Geheimniskrämerei zu lieben, was von ihr sehr unwissenschaftlich war. Und während ihrer Jahre des Versteckens hatte sie sich bis zu falschen Informationen hinreißen lassen. Auch als Mensch war sie keineswegs leicht zu verstehen; und erst nach einigen gemeinsam verbrachten Jahren war Sax davon überzeugt worden, daß auch sie für den Mars eine für Menschen verträgliche Biosphäre wünschte. Das war alles, was er an Übereinstimmung haben wollte. Und er konnte sich in diesem speziellen Projekt keinen besseren einzelnen Verbündeten vorstellen, es sei denn, es wäre der Vorsitzende dieses neuen Übergangskomitees. Und wahrscheinlich war auch der ein Verbündeter. Es gab wirklich nicht allzu viele Gegner.
Aber da am Strand saß jemand, so mager wie ein Kranich. Ann Clayborne. Sax zögerte, aber sie hatte ihn schon gesehen. Und so ging er weiter, bis er neben ihr stand. Sie schaute zu ihm auf und starrte dann wieder auf den weißen Teich. Sie sagte: »Du siehst anders aus.«
»Ja.« Er fühlte noch die wunden Stellen im Gesicht und Mund, obwohl die Narben verschwunden waren. Es war ein bißchen so, als trüge man eine Maske, und das war ihm plötzlich unangenehm. »Ich bin immer noch derselbe«, fügte er hinzu.
»Natürlich.« Sie schaute ihn nicht an. »Also willst du weg in die Oberwelt?«
»Ja.«
»Um wieder an deine Arbeit zu gehen?«
»Ja.«
Sie sah zu ihm auf. »Was denkst du, wozu die Wissenschaft da ist?«
Sax zuckte die Achseln. Das war immer und ewig ihr altes Argument, ganz gleich, wie es anfing. Terraformen oder nicht; Terraformen, das ist die Frage… Er hatte diese Frage schon vor langer Zeit beantwortet und sie auch; und er wünschte, sie könnten sich gerade darauf einigen, daß sie verschiedener Ansicht waren, und damit fertig. Aber Ann war unermüdlich.
Er sagte: »Um Dinge zu klären.«
»Aber Terraformen ist kein Ausrechnen.«
»Terraformen ist nicht Wissenschaft. Ich habe das nie gesagt. Es ist etwas, das die Menschen mittels der Wissenschaft tun. Angewandte Wissenschaft oder Technik. Das hast du. Die Wahl, was du tun willst mit dem, was du von der Wissenschaft lernst. Wie immer du es nennst.«
»Also ist es eine Sache von Werten.«
»Das nehme ich an.« Sax dachte darüber nach und versuchte, seine Gedanken über dieses trübe Thema zu ordnen. »Ich nehme an, daß unsere… Meinungsverschiedenheit nur eine andere Seite von dem ist, was die Leute als Problem des Wertes von Fakten bezeichnen. Die Wissenschaft hat es mit Fakten zu tun und mit Theorien, die Fakten zu Beispielen machen. Werte bilden ein System anderer Art, ein menschliches Konstrukt.«
»Auch Wissenschaft ist ein menschliches Konstrukt.«
»Ja. Aber die Verbindung zwischen beiden Systemen ist nicht klar. Anfangend mit den gleichen Fakten, können wir zu verschiedenen Werten gelangen.«
»Aber die Wissenschaft selbst ist voller Werte«, erklärte Ann hartnäckig. »Wir reden mit Nachdruck und Eleganz über Theorien, wir reden über klare Resultate oder ein schönes Experiment. Und das Verlangen nach Wissen ist besser als Ignoranz oder Geheimnis. Nicht wahr?«
»Das nehme ich an«, erwiderte Sax und dachte darüber nach.
»Deine Wissenschaft ist ein Satz von Werten«, fuhr Ann fort. »Das Ziel deiner Art von Wissenschaft ist die Etablierung von Gesetzen, von Regeln, von Exaktheit und Gewißheit. Du willst alle Dinge erklärt haben. Du willst die Fragen nach dem Warum beantworten, bis hin zum Urknall. Du bist ein Reduktionist. Sparsamkeit und Eleganz und Ökonomie sind Werte für dich; und wenn du die Dinge einfacher machen kannst, ist das ein echter Erfolg, nicht wahr?«
»Aber das ist die wissenschaftliche Methode«, wandte Sax ein. »Das bin nicht nur ich, sondern das ist es, wie die Natur selbst funktioniert. Das tust du auch selbst.«
»Es gibt menschliche Werte, die in der Physik eingebettet sind.«
»Da bin ich nicht so sicher.« Er hielt die Hand hoch, um sie für eine Sekunde anzuhalten. »Ich sage nicht, daß es in der Wissenschaft keine Werte gäbe. Aber Materie und Energie tun das ihre. Wenn du über Werte sprechen willst — bitte sehr! Gewiß ergeben sie sich irgendwie aus Fakten. Aber das ist ein anderes Thema, eine Art Soziobiologie oder Bioethik. Vielleicht wäre es besser, einfach direkt über Werte zu sprechen. Das größte Gute für die größte Anzahl, oder so etwas.«
»Es gibt Ökologen, die sagen würden, das wäre die wissenschaftliche Definition eines gesunden Ökosystems. Eine andere Art, vom Höhepunkt eines Ökosystems zu sprechen.«
»Ich denke, das ist ein Werturteil. Eine Art Bioethik. Interessant, aber …« Sax zwinkerte sie neugierig an und beschloß, den Kurs zu ändern. »Warum nicht hier einen Versuch mit einem optimalen Ökosystem wagen, Ann? Ohne lebende Dinge kann man nicht von Ökosystemen sprechen. Was vor uns hier auf dem Mars war, war keine Ökologie, sondern nur Geologie. Man könnte sogar sagen, daß es hier vor langer Zeit einen Anfang von Ökologie gab und daß dann etwas schiefgegangen ist und erfror, und daß wir jetzt gerade wieder anfangen.«
Sie murrte darüber, und er hielt inne. Er wußte, daß sie an eine Art von innerem, natürlichem Wert für die mineralische Realität des Mars glaubte. Das war eine Version von dem, was die Leute als Landethik bezeichneten, aber ohne die Biota des Landes. Man könnte sagen: Stein-Ethik. Ökologie ohne Leben. Wirklich ein spezifischer Wert!
Er seufzte. »Vielleicht ist es gerade das, wenn man über einen Wert spricht. Die Begünstigung lebender Systeme gegenüber nicht lebenden. Ich meine, daß man Werten nicht entrinnen kann, wie du sagst. Es ist seltsam … Meistens bin ich bestrebt, die Dinge klar zu machen. Warum sie so funktionieren, wie sie es tun. Aber wenn du mich fragst, warum ich das will — oder was ich wünsche, das hätte geschehen sollen, auf was hin ich arbeite …«Er zuckte die Achseln und bemühte sich um Selbstverständnis. »Das ist schwer auszudrücken. Irgend etwas wie einen Nettogewinn an Information. Einen Reingewinn an Ordnung.« Für Sax war das eine gute funktionale Beschreibung des Lebens selbst, von dessen Antagonie zur Entropie. Er hielt Ann die Hand hin in der Hoffnung, daß sie das verstehen und mindestens dem Paradigma ihrer Diskussion zustimmen würde, einer Definition des letzten Zieles der Wissenschaft. Schließlich waren sie doch beide Wissenschaftler, und es war ihr gemeinsames Unterfangen.